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Die von der Rechtsordnung verbindlich festgelegten – und dann in konsequenter Fortführung dieser Verbindlichkeit auch durch Sanktionen flankierten – Vorgaben lassen sich zeitlich in kurz-, mittel- und langfristige Zielvorgaben aufteilen. Zum rein ökonomischen Oberziel (der Gewinnmaximierung/Versorgung der Bevölkerung mit bestimmten Gütern) stehen diese Ziele in Konkurrenz und können im Extremfall sogar antinomisch wirken, indem einzelne wirtschaftliche Betätigungen vollständig ausgeschlossen werden. Die unternehmensethischen Zielvorgaben und die von der Rechtsordnung festgelegten Vorgaben müssen in ihrer Zielrichtung dagegen konform sein und einander wechselseitig unterstützen. Integrative Unternehmensethik und die ordnungsrechtlichen Vorgaben bilden auf diese Weise die normative Grundlage für ein Konzept der „organisierten Verantwortlichkeit“ in einer Unternehmung[491].
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Organisatorisch umgesetzt werden diese Zielvorgaben, indem auf die Erkenntnisse der Entscheidungs-, Handlungs- und Organisationstheorie zurückgegriffen wird und entsprechende soziale Mechanismen implementiert werden[492]. Die wirtschaftsethischen Zielvorgaben sind dazu konsequent in sämtliche Führungssysteme zu internalisieren[493]. Rechtsethische Zielsetzungen und die verbindlichen und durch Sanktionen flankierten Normen des Wirtschaftsrechts prägen den kautelarjuristischen Rahmen für die Ausgestaltung von Verhaltensgrundsätzen und Führungsrichtlinien, Leistungsbeurteilungs-, Honorierungs- und Beförderungssystemen.
a) Grenzen normativer Steuerung
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Mit den vorstehenden Erwägungen sind zugleich die Grenzen der normativen Steuerung der Wirtschaftsprozesse beschrieben: Die sanktionenrechtlich flankierte hoheitliche Rahmenordnung muss ihre Zielvorgaben insgesamt offen gestalten in Bezug auf die Mittel zum Einhalten der ordnungspolitisch gesetzten Rahmen (sog. Rechtscompliance), flexibel sein in Bezug auf unterschiedliche Ablauf- und Verfahrensgestaltungen[494] und neutral sein gegenüber allen unternehmensstrategischen Entscheidungen.
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Gerade in Bezug auf die Gestaltung der Verfahren zum individuellen Wirtschaften, in Bezug auf die Ausgestaltung der konkreten Abläufe in einem Unternehmen und in Bezug auf die jeweils verfolgte Unternehmensstrategie kann eine staatliche Steuerung allenfalls durch weiche, genuin öffentlich-rechtliche Anreizsysteme, nicht dagegen durch rein punitiv wirkende Sanktionen erfolgen. Traditionelle Beispiele für derartige Anreizsysteme sind die Gewährung von Subventionen, steuerliche Erleichterungen oder die Berücksichtigung der sozialen Wertschöpfungsbilanz einer Unternehmung bei der öffentlichen Auftragsvergabe. In der jüngeren Diskussion kommt hierzu noch die Ausgestaltung des Finanzmarkts, wie etwa die Abhängigkeit von Unternehmungen von einem stärker volatilen Aktienmarkt oder die Möglichkeit der Refinanzierung durch klassisches Fremdkapital (insbesondere Kredite oder Anleihen). Staatliche bzw. bezugsgruppenorientierte Steuerung erfolgt also durch die Vorgabe und Ausgestaltung der Rahmenbedingungen einer staatlichen Präferenzordnung in Bezug auf ökonomische Ziele.
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Da gesetzliche Vorgaben häufig nur Handlungsspielräume vorgeben, innerhalb derer sich ein Wirtschaftssubjekt bewegen darf, können andererseits selbst die von der Rechtsordnung gewährten einzelnen Handlungsspielräume im Zusammenwirken insgesamt zu weit gehen, sodass in der Summe das Ausnutzen aller gewährten Handlungsspielräume zu einem nicht mehr tolerierten Schadensrisiko führt, das folgerichtig als rechtlich missbilligtes Verhalten eingestuft wird. Ein Beispiel für ein strafrechtlich missbilligtes Verhalten ist der Fall, in dem gesetzlich vorgeschriebene Sicherheitsstandards jeweils nur bis zur äußersten Grenze gewahrt würden, sodass das Endprodukt in Verbindung mit einer nur minimalen Instruktion des Verbrauchers in einer Anzahl von Fällen zu Gesundheitsschädigungen führt. Eine weitere allgemeine Grenze zulässigen Unternehmerverhaltens verläuft dort, wo der mit der staatlichen Risikoverteilung geschaffene Vertrauenstatbestand durch neue Tatsachen – z. B. neue wissenschaftliche Erkenntnisse – erschüttert wurde.
b) Speziell die Behandlung von Unternehmen
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Bei der Behandlung von Unternehmen konnte zunächst festgestellt werden, dass alle Unternehmen grundsätzlich gleich zu behandeln sind. Insbesondere ist eine generelle Sonderbehandlung von rein monistisch an den Interessen der Eigentümer (shareholder) ausgerichteten Unternehmen gegenüber einer konkreten Anspruchsgruppe (stakeholder) verpflichten Unternehmen nicht angezeigt[495]. Es konnte nicht nachgewiesen werden, dass durch stakeholder legitimierte Unternehmen eine besondere gesamtgesellschaftliche Verantwortung übernehmen und in diesem Sinn in besonderer Weise auf gesellschaftliche Anliegen verpflichtet sind. Eine derartige Verpflichtung auf gesellschaftliche Anliegen folgt aus einer Legitimation durch eine Bezugsgruppe nur in einer sehr eingeschränkten Weise. Auch die von einer Bezugsgruppe verfolgten Anliegen sind regelmäßig singulär auf ganz bestimmte Interessen ausgerichtet. Soweit rechtlich relevante Interessen durch die Legitimation mittels der Bezugsgruppe nicht erfasst werden oder derartige Interessen nur mittelbar gefördert bleiben, unterscheiden sich Bezugsgruppen-legitimierte Unternehmen in ihrem Marktverhalten nicht von Eigentümerinteressen-legitimierten Unternehmen.
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Bei durch Bezugsgruppen legitimierten Unternehmen wie bei durch Eigentümerinteressen legitimierten Unternehmen können Züge einer bloßen Corporate Compliance und einer darüber hinausgehenden unternehmerischen Integrität (Corporate Integrity) nachgewiesen werden[496]. Compliance bedeutet in diesem Kontext soviel wie Rechtskonformität und beschreibt einen äußeren Legalismus. Corporate Integrity verlangt eine über diesen Legalismus hinausgehende ethische Autonomie des gesellschaftlichen Subsystems Unternehmung und der dort beschäftigten Personen. Eine solche Integrität kann rentabel sein, da über eine derartige Unternehmensethik zugleich innerhalb bindender Geschäftsgrundsätze und gewährleisteter Rechte der Anteilseigner der Unternehmung (shareholder und stakeholder) ein nach außen wirksamer Unternehmenswert geschaffen wird. Greifbar wird dieser außenwirksame Unternehmenswert insbesondere in Form einer Unternehmensmarke und den daraus resultierenden Kommunikationserfolgen am Markt. Einen zunächst nach innen wirkenden Unternehmenswert schafft eine integrative Unternehmensführung durch eine korrespondierende Mitarbeitersolidarität und eine damit einhergehende Loyalität und Motivation[497]. Auch dieser Unternehmenswert wirkt schließlich über den Marktwert einer Unternehmung nach außen und steht damit zu originär außenwirksamen Unternehmenswerten in einem Komplementärverhältnis.
c) Die Bedeutung einer Übererfüllung normativer Erwartungen
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Strafrechtliche Verantwortlichkeitsstrukturen bleiben von einer über die gesetzliche vorgeschriebene Legalität hinausreichenden ethischen Integrität grundsätzlich unberührt. Sie führen also nicht dazu, dass bestehende strafrechtliche Anforderungen wegen der Integrität einer Person oder eines Unternehmens und eines damit verbundenen positiven Rufes oder einer Marke etwa noch verschärft werden würden[498]. Anderes gilt nur, wenn im Rahmen dieser unternehmerischen Integrität spezifische rechtliche Verpflichtungen eingegangen werden, die dann Anknüpfungspunkt für eine weitergehende rechtliche Verantwortlichkeit sein können.