„Das ist echt Scheiße, Kleine“, sagte Lee.
„Echt“, sagte Hell. „Was fehlt ihr denn?“
„Sie hat Demenz.“ Es war nicht leicht, darüber zu sprechen. „Sie lebt jetzt in einem Pflegeheim. Im St. Judes. Dort ist es schön.“ Ein kostspieliger Ort, den ich mir ohne diesen Job nicht leisten könnte. „An manchen Tagen erinnert sie sich an alles, an manchen nicht. Meistens erinnert sie sich gar nicht mehr an mich.“ Was mir das Herz brach. „Leider braucht sie ununterbrochene Pflege von geschultem Personal. Das kann ich ihr nicht geben.“ Ich war mir nicht sicher, warum das so verteidigend klang.
„Natürlich nicht“, sagte Noah. „Das wäre von jedem sehr viel verlangt. Ganz besonders für jemanden in deinem Alter.“
Connor setzte sich aufrecht. „Wie alt ist sie?“
„Sehr alt. Als meine Mutter geboren wurde, war sie schon über vierzig.“ Ich lächelte leise. „Meine Mom war ihr Wunderkind.“ Ich hatte genug von dieser Unterhaltung und fragte: „Darf ich ein Foto von euch machen?“
„Klar“, sagte Noah sofort.
Es wäre das erste Foto auf meinem Smartphone, das ich vom Label bekommen hatte. Sie posierten für mich und ich machte eine Aufnahme. Ich sah sie mir an. „Cool“, sagte ich.
„Das landet jetzt sofort auf deinen Social-Media-Kanälen, stimmt’s?“, fragte Connor kühl.
„Oh, äh …“ Ich sah ihn an. „So etwas habe ich nicht.“
Hell runzelte ungläubig dir Stirn. „Was? Wieso?“
Mir war klar, dass das ziemlich außergewöhnlich war.
„Wie bleibst du denn mit deinen Freunden in Kontakt?“, fragte Lee und klang total verdutzt.
Welche Freunde? Die folgende Stille war schneidend und mein Magen zog sich wieder zusammen. Mein Lächeln verschwand und in meinen Ohren baute sich Druck auf. Ich wurde langsam rot. Dann biss ich mir auf die Lippe. Hart. Ich hatte das nicht laut sagen wollen. Es war zu viel. Die Stille wurde fast unerträglich.
„Na dann.“ Ich stand auf, räusperte mich und hielt das Telefon hoch. „Vielen Dank noch mal dafür.“ Ich wich den Blicken aus, die ich auf mir spürte, und wünschte ihnen freundlich eine gute Nacht.
Du lieber Himmel. Da hatte ich mich ja komplett bloßgestellt. Ich fühlte mich emotional entblößt und kletterte in mein Bett. Nachdem ich den Vorhang geschlossen hatte, legte ich mich hin und warf mir ein Kissen aufs Gesicht. Vielleicht half das, mein großes, dummes Mundwerk zu schließen.
Kapitel 6
Me And My Friends
Emily
Es war Tag zwei im Bus und größtenteils war es ziemlich ereignislos. Es war auch das erste Mal, dass ich einen laut schmetternden Furz hörte, woraufhin vier erwachsene Männer loslachten wie blöd. Das war definitiv was Neues. Die Jungs machten alle ihr eigenes Ding. Sie schliefen, hörten Musik, lasen, spielten auf ihren Instrumenten und mir war irgendwie langweilig. Ich wünschte mir, ich hätte mich besser vorbereitet. Ich hatte nur drei Bücher dabei, weil ich gedacht hatte, ich hätte nicht genug Zeit zum Lesen. Reisen war öde.
Lee kam den Gang entlang und spielte auf seiner Nintendo Switch. Als er sich neben mich setzte, hielt er mir das Teil entgegen.
„Lust auf einen Kampf?“
Ich schob die Brille hoch und betrachtete den roten und blauen Apparat. „Einen Kampf?“
„Yep.“ Er zog einen Controller heraus und warf ihn mir zu.
Ich fing ihn auf und lächelte vorsichtig. „Okay. Aber ich weiß nicht, was ich machen muss.“
Lee grinste mich an. „Ich zeig es dir.“ Er stellte den Bildschirm auf den Tisch vor uns und startete das Spiel. „Schau dir an, wie ein Profi das macht, Kleine.“
Ich beobachtete und schenkte dem Spiel meine ganze Aufmerksamkeit. Schnell erkannte ich um was es darin ging. Ziel war es, alles zu eliminieren. Lee sammelte Waffen ein und irgendwelche Schilde und schoss auf alles, was ihm ins Blickfeld kam. Das sah nicht so schwer aus.
Als er fertig war, fragte er: „Bereit?“
„Ich glaube schon.“ Ich setzte mich aufrecht hin und nahm den Controller genauso in die Hand, wie Lee. In dem Moment, in dem ich einen Fuß an Land setzte, wurde ich erschossen und war tot.
„Was? Wie?“ Ich war entmutigt.
„So ist das Spiel eben, Emmy. Versuchs noch mal.“
Ich versuchte es. Ich landete, rannte ganz kurz und wurde brutal vernichtet.
„Oh Gott, ich bin furchtbar schlecht.“ Ich gab Lee den Controller zurück. „Ich will das nicht mehr. Das ist zu schwer.“
Lee schnalzte mit der Zunge und drückte mir den Controller wieder in die Hand. „Übung, Emmy-San. Es wird leichter. Ehrlich.“
Seufzend machte ich mich bereit. Ich war nicht der schnell aufgebende Typ. Das Spiel würde mich nicht schlagen. Ich würde es probieren, bis die Finger wund waren.
„Bereit?“
Ich konzentrierte mich und nickte. „Los.“
Lee startete das Spiel und als ich landete, gelang es mir zu einem kleinen Schuppen zu rennen, wo ich eine Waffe und einen Schild fand. Ich stieß einen glücklichen Laut aus. Aber als ich den Schuppen wieder verließ, war da ein Typ. Der mich erschoss. Mein Spieler fiel auf die Knie und ich gab ein schrilles „Nein!“ von mir. Der andere Typ erschoss mich noch mal und ich war tot.
„Das ist ein Alptraum.“ Ich wollte den verfluchten Controller an die Wand klatschen und atmete aus. „Warum haben die es alle auf mich abgesehen? Ich …“
Lees Schultern bebten.
„Was?“, fragte ich vorsichtig.
Lee hob den Controller hoch, bewegte den Umschalter und mir wurde alles klar. Ich schoss vom Sitz hoch, zeigte mit dem Finger auf ihn. „Du!“, rief ich laut.
Er brach in lautes, ungebändigtes Gelächter aus. Ich hätte es wissen müssen. Lee war der Typ, der auf mich geschossen hatte. Sein Lachen war ansteckend. Ich versuchte weiter böse zu gucken, aber es gelang mir nicht.
„Das war nicht sehr nett.“
Er wischte sich die Lachtränen aus den Augen. „Oh Himmel, das war zu gut.“ Endlich hatte er sich wieder im Griff. „Du machst echt Spaß, Kleine.“
Schmollend setzte ich mich wieder hin. „Ich wollte dein blödes Spiel sowieso nicht spielen“, brummte ich. Das brachte Lee erneut zum Lachen.
Mein Grinsen wurde zu einem Kichern. Das Kichern zu einem Lachen. Und das entwickelte sich zu einem Grunzen, sodass Lee sich fast in die Hosen machte. Je mehr er lachte, desto mehr grunzte ich. Es war ein ewiger Zyklus, bis Lee vom Sitz glitt und sich auf dem Boden rollte vor Lachen. Das war das Lustigste, was mir in meinem ganzen Leben passiert war. Ich grinste immer noch wie ein Idiot