Integrative Psychotherapeutische Diagnostik (IPD). Peter Osten. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Peter Osten
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846350881
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und sozialkonstruktivistisches Denken, das in der Lage ist, das je ,Festgestellte‘ wieder in die Verflüssigung kontingenter Lebenszusammenhänge hinein zu entlassen.

       II Hintergründe der Integrativen Diagnostik

      In diesem Kapitel werden die humanwissenschaftlichen und klinischen Hintergründe der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) bearbeitet. Eine kurze wissenschaftstheoretische Vorbemerkung führt in die kritische Position der hier vorgestellten Konzepte ein. Anschließend werden die metatheoretischen Aspekte der IPD beleuchtet. Im Sinne einer pragmatischen „Klinischen Philosophie“ (Petzold, 2003) werden Grundgedanken der französischen und deutschen Leibphilosophie, der philosophischen Anthropologie und des sozialphilosophischen Denkens aufgezeigt. Der metatheoretische Abschnitt endet mit der Darstellung der erkenntnistheoretischen Position des hier vorgestellten Verfahrens.

      Im Anschluss werden die klinischen Hintergrundtheorien für das diagnostische Verstehen des Menschen dargestellt. Hierzu zählen die Gesundheitspsychologie, Motivationstheorien, die empirische Entwicklungspsychologie, eine gendersensible Sozialisationstheorie sowie die Persönlichkeitspsychologie und sozialpsychologische Theorien zur Identität. Durch diese Darstellung soll der Solipsismus des Subjekts aufgelöst und in Vorstellungen eines dynamisch, bewusst und unbewusst, in seiner Umgebung agierenden Organismus überführt werden. In dieser Auslegung spielen Dimensionen seiner Verleiblichung (embodied), der Einbettung in seine Lebenswelt (embedded), der individuellen und sozialen Handlungsmotivationen (enacted) und der zeitlich-räumlichen Ausdehnung und Weltgestaltung (extended) eine gleichermaßen zentrale Rolle (Thompson, 2010).

      Weil es im Rahmen psychotherapeutischer Diagnostik um spezifische Episteme (Foucault, 2003) des Menschlichen geht, ist zu Beginn des Kapitels über die Hintergründe der Integrativen Psychotherapeutischen Diagnostik (IPD) eine kurze wissenschaftstheoretische Positionierung angezeigt. Der naturwissenschaftliche Diskurs ist einem Streben verpflichtet, das Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten der Wirklichkeit innerhalb seiner Beschreibungssysteme systematisch und möglichst vollständig erfassen und erklären will. Im Foucault’schen Verständnis der Episteme sind Erkenntnisakte und ihre Inhalte (Noemata) sowohl kulturhistorisch durchfiltert als auch durch Machtdiskurse imprägniert. Dies trifft vor allem für den Wissenschaftsdiskurs zu. Innerhalb der Prozesse methodisch nachvollziehbaren Forschens gelten nur empirische Erkenntnisse als wissenschaftlich, als gültig, überprüfbar und gesichert.

      Wert und Bedeutung der Naturwissenschaften sind an sich unbestritten, im Phänomenbezirk des menschlich Wahrnehmbaren gibt es jedoch Themenfelder, die der Positivismus auf seinem Weg nicht erreicht (Bataille, 1994). Hierzu zählen etwa sozialpsychologische Probleme der Beziehungs- und Übertragungsdynamik, das Problem des Unbewussten oder subjektiver Bedeutungssysteme, Themen des geistigen Lebens (Liebe, Hoffnung, Dankbarkeit) usw., innerhalb derer Erkenntnisse nur intersubjektiv erschlossen werden können. Im positivistischen Diskurs kann eine Tendenz entstehen, derartigen Phänomenen generell ihren ontologischen Status abzusprechen. Dem Thema der Kontingenz (Zufall, Fügung, das Nicht-Notwendige alles Bestehenden) etwa, das im Bedeutungssystem von Subjekten Evidenz beansprucht, wird in den empirischen Wissenschaften nur noch ein marginalisierter Platz in der „Wahrscheinlichkeitsrechnung“ zugebilligt (Janke, 2002; Niederberger, 2007). Versuchen der Objektivierung derartiger Erfahrungen sind strenge Grenzen gesetzt (Albert, 1974).

      Jeder Blick auf die Welt ist an sich schon begriffs- und theoriegeleitet und muss daher konsequent als aspektiv angesehen werden. Das heißt, theoretische Konstruktionen entstammen Beobachtungen, sind gedankliche Bildungen und damit immer nur eine mögliche Perspektive unter vielen, deren Verhältnis zur Wirklichkeit des unmittelbar Gegebenen im einzelnen Fall sogar problematisch sein kann (Weber, 1904; Feyerabend, 1976). Weder unser Bewusstsein noch unsere Episteme stellen einen „Widerhall der Existenz in Echtzeit“ dar (Baudrillard, 2013, 5ff.; vgl. Schnädelbach, 2013). Vielmehr kämpft das Denken mit dem, was unser Bewusstsein als Realität bezeichnet. Die Naturwissenschaften intendieren die Parteinahme für eine (subjektlose) „objektive Illusion der Welt“ (ebd.). Dieser Kampf des Bewusstseins aber ist in der Tat substanzieller als der Glaube an eine Wahrheit, weil er unhintergehbar in einen perspektivischen Pluralismus führt (Goodman, 1990). Das Signum reflektierenden Urteilens im integrativen Ansatz ist daher ein multiperspektivischer und multiparadigmatischer Ansatz.

      Dies folgt zunächst Karl Poppers (1934) Idee, in der Tendenz nicht immer noch mehr Beweise für die Richtigkeit einer Theorie anzuhäufen, sondern im Gegenteil zu versuchen, diese zu dekonstruieren oder zu falsifizieren, weil nur so Fortschritte in der Theoriebildung möglich werden. Es verlässt Poppers Denken allerdings an der Weggabelung zwischen dem reinen Positivismus auf der einen und dem induktiven und hermeneutischen Denken auf der anderen Seite, weil menschliche Wirklichkeit immer nur diskursiv und annäherungsweise erschlossen werden kann (Sölter, 1995; Kuhlmann, 1975). Psychotherapeutische Erkenntnisprozesse sollten von daher stets auf dem Boden einer stringenten Verbindung von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften stehen, die unter den Prämissen einer transversalen Vernunft (Petzold, 2004) versucht, heterotope Wissensstände1 miteinander zu verbinden.

      Auch wenn der Materialismus in seiner (historischen) Infragestellung illusionärer Glaubenssysteme immer ein emanzipatorisches Ansinnen verfolgte (Bunge & Mahner, 2004), ist Wissen heute mannigfaltigen Gefahren von Missbrauch ausgesetzt. Empirie ist nicht mehr nur liberal-universitär, sie ist zielgerichtet, soll Zwecke erfüllen. Wissen wird präzisiert, also partialisiert und damit vielfach verfremdet. Weil sie jeweils nur Signifikanzen und Korrelationen produzieren, sind empirische Erkenntnisse für sich alleine stehend kategorial weder in der Lage, die charakteristische Seinsweise (Sartre, 1952) des Menschen zu untersuchen, noch, seine Sinnbedürfnisse (Husserl, 1954) zu befriedigen. Missbrauch von Signifikanz- und Korrelationsergebnissen liegt vor, wenn diese als Faktum oder Kausalität hybridisiert (gebündelt, gekreuzt, unzulässig gedeutet) werden und die Varianz verleugnet wird (Wasserstein & Lazar, 2016; Amrhein, Korner-Nievergelt & Roth, 2017).

      Erkenntnisinteressen von Forschern müssen weder bewusst sein noch deklariert werden (Habermas, 1973; Schnädelbach, 2013). Forschungsfragen können gezielt ,designed‘ werden, um bestimmte erwünschte Ergebnisse zu erzielen. Forscher präzisieren ihren Forschungsgegenstand (lat. präcidere = vorne wegschneiden), aber sie betten das, was sie der Wirklichkeit entnommen haben, um es beforschen zu können, nicht notwendig sinnstiftend wieder zurück in diese Wirklichkeit ein (Janke, 1999, 2002). In dem Augenblick, in dem solche Wissensbestände in den „anonymen Diskurs“ (Foucault, 2012 [1970]) einer Gesellschaft übergehen, werden diese zu Faktoren, die auf die zuvor untersuchte Wirklichkeit evaluativ und normativ zurückwirken. Individuen überwachen und kontrollieren sich gegenseitig in Bezug auf die Einhaltung empirisch generierter Theorien oder sie machen sich von Expertenmeinungen abhängig. Instinkt, Intuition und Leibwissen sowie Erfahrungen mit deren lebenspraktischer Performanz können unter solchem „Evidenzterror“ (Steinweg, 2015) marginalisiert, entwertet werden und verarmen.

      Paradoxerweise sind es gerade die Humanwissenschaften, die systematisch Erkenntnisse über den Menschen und sein Verhalten in der Gesellschaft sammeln, die dann wiederum als Kontroll- und Herrschaftswissen zur Disziplinierung von Individuen, bis hinein in deren Leiblichkeit, verwendet werden (Foucault, 1987 [1976]). So stellen sie ein Programm zur Reglementierung und Gleichschaltung sozialer Prozesse dar. Das Soziale verliert hier das Orientierende und wird zur Verstörung (Baudrillard, 1978, 2010b). Wenn Menschen das selbsttätige, souveräne, an Lebensklugheit (Luckner, 2005) orientierte Denken aufgeben, opfern sie ihre Wirklichkeit hegemonialen Machtdiskursen. Marcus Steinweg (2015) hat das zynisch den „Pseudosubstanzialismus der Tatsachenesoteriker“ genannt.

      Obwohl Geisteswissenschaften large scale theories darstellen, bringen sie doch nicht weniger zeitepochale Denkströmungen zum Ausdruck, als dies empirische Wissenschaften tun. Sie sind kulturell, ethnisch, gesellschaftlich und religiös imprägniert, von den Werten, Orientierungen und Sinnattraktoren ihrer