Sprachbewusste Gedichtanalyse. Fabian Wolbring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Wolbring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846350355
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diese Kennzeichen ohne die Klassifizierung als Gedicht gar nicht aufgefallen wären. Offensichtlich verändert der Status Gedicht meinen Umgang mit dem Text. In jedem Detail wittere ich nun potentielle Bedeutung36 und ich versuche, aus meinen Teilbeobachtungen Hypothesen für eine übergeordnete „Gesamtbedeutung“ oder eine mögliche kommunikative Absicht zu erstellen. Solche Zweitbedeutungen, die über das basale Verständnis des Textes als Mannschaftsaufstellung hinausgehen, lassen sich mit Klaus Weimar als ein Verstehen zweiten Grades bestimmen, d. h. als „Antwort auf die Frage, als was etwas sehr wohl Verstandenes sonst noch zu verstehen sei“37. Dabei kann es durchaus unterschiedliche plausible Zweitbedeutungen für diese exponierte Aufstellung geben.38 Ist es womöglich eine Hommage des Fußballenthusiasten Handke an die legendäre Mannschaft? Oder im Gegenteil eher eine kritische Thematisierung der allgegenwärtigen Fußballmanie, die womöglich die Kunst und Literatur zu verdrängen sucht? Oder aber die bewusste Unterwanderung der Unterscheidung von Kunst und Alltagsdiskurs? Spielt Handke womöglich auf irgendein historisches Ereignis an? Will er die Entindividualisierung des Menschen durch eine Listenrhetorik vor Augen führen? Geht es womöglich in irgendeiner Art sogar um die Nürnberger Prozesse? Gerade das symbolische Ausdeuten des Textes gilt schließlich als typischer „Modus der Interpretation“39 bei Gedichten. Oder geht es hier gerade um die Dokumentation unmittelbarer Gegenwart, also jenen Moment im Jahr 1968, an dem das große Spiel begann?

      Plötzlich ergeben sich Fragen zur genauen Anordnung der Spielernamen: Hat die Pyramidenform irgendeine Bedeutung? Oder vielleicht die Wortanzahl in den jeweiligen Zeilen (1/2/4/6)? Warum wurde die gegnerische Mannschaft nicht aufgeführt? Wer sich eingehender mit der Referenz-Partie befasst (etwa indem er – wie auch ich – den entsprechenden Wikipedia-Artikel liest), lernt dann auch, dass das Spiel eigentlich bereits um 14 Uhr begann, und zwar mit Helmut Hilpert statt Horst Leupold in der Innenverteidigung. Wozu dienen diese Änderungen? Oder waren das einfach Transkriptionsfehler Handkes?

      Die Literaturwissenschaftler Alwin Binder und Heinrich Richartz gehen in ihrer Einführung in die Gedichtanalyse davon aus, dass eben jene Analyse zwingend voraussetzt, dem Text zu unterstellen, dass er „künstlerisch vollendet“ sei und somit „nichts Zufälliges, sondern nur ‚Bedeutendes‘“40 enthalte. Alle Beobachtungen werden folglich „semantisiert“ und „funktionalisiert“41. Bemerkenswerterweise hatte ich bei Dickis Versen – die ja viel eher die gängigen Kriterien eines Gedichtes erfüllen als Handkes Text – ursprünglich keinen starken Impuls, ihn auf mögliche Bedeutungsdimensionen hin abzuklopfen. Vermutlich weil er mir bei aller Merkwürdigkeit in seiner Funktion bzw. Funktionslosigkeit relativ eindeutig erschien. Durch die genaue Beobachtung habe ich aber auch hier ein durchaus tieferes Verständnis gewonnen. Wie bei vielen Kindergedichten wird ein semantisch vager, aber unstrittig derber Inhalt in ein durch Reim und Rhythmus streng geordnetes Versgewand gekleidet, durch das der „anarchische Quatsch“ wie lautlich legitimiert wirkt.42 Dickis Gedicht wirkt dabei tatsächlich invariant, d. h. formvollendet. Würde man auch nur eine Silbe verändern, verlöre es wohl seine freche Ausdrucksstärke.

      totale Bedeutsamkeit

      Für die tiefergehende Analyse scheint es daher ratsam, „dem allzu schnellen Verstehen einen Widerstand entgegensetzen“43. Die Unterstellung einer „totalen Bedeutsamkeit“ erweist sich für ein Gespräch mit dem Text in der Regel nämlich als sehr produktiv, weil sie dazu auffordert, den eigenen Beobachtungsaufwand zu intensivieren, vielfältige Fragen an den Text zu stellen und Hypothesen aufzuwerfen und gegebenenfalls auch wieder zu verwerfen, falls sie nicht zu anderen Befunden passen. Da es aber auch Gedichte gibt, die auf Träumen basieren, die im Rausch oder Zufallsexperiment entstanden oder die von ihren Autoren schlichtweg nicht bis in letzte Details durchdacht worden sind, kann die Unterstellung einer totalen Bedeutsamkeit auch zu Überinterpretationen führen.

      Rezeptionsmodi und Anschlusshandlungen

      Ist es womöglich dieser Umgang oder „Rezeptionsmodus“, der ein Gedicht ausmacht? Gelegentlich liest man tatsächlich, dass Gedichte konstitutiv einer mehrfachen, intensiven, analysierenden Lektüre bedürften.44 Andernorts heißt es wiederum, Gedichte müssten gerade affektiv gehört, sinnlich erfahren und eben nicht „krampfhaft“ (über-)interpretiert werden.45 Man kann sogar beide Rezeptionsmodi kombinieren, indem man den Text zunächst unbefangen und affektiv auf sich wirken lässt und danach reflektiert, wodurch der entstandene Eindruck wohl erweckt wurde und somit dem berühmten Diktum des Schweizer Germanisten Emil Staiger folgen, „daß wir begreifen, was uns ergreift.“46 Grundsätzlich sind wohl auch andere Rezeptionsmodi denkbar, vor allem aber auch vielfältige Anschlusshandlungen vom Auswendiglernen bis hin zum Konsultieren von Sekundärliteratur zu Autor, Werk, Epoche, usw. Die Lyrikdidaktik schlägt vor allem diverse „produktionsorientierte“ Anschlusshandlungen vor, sei es den Text mit Musik zu untermalen, ihn pantomimisch umzugestalten47 oder mehrere Texte zu einem eigenen Gedichtbuch zusammenzustellen, usw.48 Inwieweit man sich einem Text dadurch annähert oder doch eher von ihm entfernt, wird sich wohl von Fall zu Fall ent- und unterscheiden. Mir selbst leuchten am ehesten solche produktionsorientierten Anschlusshandlungen ein, die die poetologischen Verfahren der Gedichte kopieren oder variieren (etwa ein selbstgereimtes „Schnöttel! Döttel! Schweineköttel!“).49

      Jeder Text ein Gedicht?

      Aber braucht man für diesen Rezeptionsmodus überhaupt einen eindeutig als Gedicht bestimmbaren Text? Aus meiner Sicht ließe sich tatsächlich jeder Text als Gedicht behandeln. Vor allem lässt sich stets sinnvoll seine sprachliche Ausgestaltung reflektieren, selbst wenn der eigentliche Urheber diese womöglich gar nicht bewusst gestaltet hat. Interessante Textgespräche gäbe es vermutlich überall zu führen, eben auch mit Mannschaftsaufstellungen, Kassenbons50 oder Gebrauchsanweisungen. Sie alle haben auch eine Ästhetik, im Sinne einer wahrnehmbaren und mitwirkenden Sinnlichkeit; ob man sich dieser nun bewusst wird oder nicht. Aber sind deshalb nun alle Texte Gedichte? Sicherlich nicht, wenn der Status „Gedicht“ im Sinne einer Qualitäts-Auszeichnung und Würdigung ästhetischer Brillanz „verliehen“ bzw. „verdient“ werden muss, aber das scheint mir für ein unbefangenes Textgespräch ohnehin eine schlechte Prämisse zu sein.

      Proto-Gedichte

      Offensichtlich gibt es recht unterschiedliche Vorstellungen davon, was ein Gedicht kennzeichnet und wie es zu sein hat. Sicher hängt das jeweilige Verständnis maßgeblich von eben jenem „Proto-“ oder „Ideal-“ Gedicht im eigenen Kopf ab, das unsere Erwartungen an ein Gedicht determiniert. Welcher Epoche oder welcher Untergattung gehört es an? Denkt man eher an Celans TODESFUGE, an ein Frühlingsgedicht von Hoffmann von Fallersleben oder eben an Dickis kleine Weihnachtsverse? Die bisher aufgeführten Kriterien wären demnach allesamt nur als Tendenzen51 zu verstehen, die zudem auch historisch und kontextuell differieren.

      Manche Texte sind aber für jedermann als Gedicht zu erkennen, wie eben jener von Conrad Ferdinand Meyer, der in diesem Buch als ständig befragter Gesprächspartner dient.

      Zwei Segel

      Zwei Segel erhellend

      Die tiefblaue Bucht!

      Zwei Segel sich schwellend

      Zu ruhiger Flucht!

      Wie eins in den Winden

      Sich wölbt und bewegt,

      Wird auch das Empfinden

      Des andern erregt.

      Begehrt eins zu hasten,

      Das andre geht schnell,

      Verlangt eins zu rasten,

      Ruht auch sein Gesell.

      Zwei Segel

      Hier wird augenscheinlich beinahe jedes genannte und erdenkliche Kriterium eines Gedichtes erfüllt: Von der deutlichen Versstruktur, zu den Reimen, zum irgendwie „gefühligen“ Inhalt, zur konventionell „poetischen“ Sprache mit ihren bedeutungsschwangeren Segeln und Winden, usw. Der Text erscheint mir als solches Ideal-Gedicht, dass er selbst den bis hierhin so deutlich erscheinenden Widerspruch aufzulösen vermag, zwischen der angeblich notwendig suggestiven, unvermittelt