Sprachbewusste Gedichtanalyse. Fabian Wolbring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Wolbring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846350355
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auch etwas kryptisch, anspruchsvoll und bedeutungsoffen.

      Daraus ergibt sich auch, dass die Beantwortung der eingangs gestellten Frage, woran man denn ein Gedicht nun eindeutig als solches erkennen kann, für ein Gespräch mit dem Text von ernüchternd nachrangiger Dringlichkeit zu sein scheint. Die Frage „Ist das ein Gedicht?“ beantwortet sich mit einem unaufgeregten „ja“. Glücklicherweise sind uns beim Versuch einer Beantwortung etliche spannendere Fragen begegnet, die sich durchaus zu stellen lohnen, z. B.:

      –Wovon handelt der Text?

      –Wie ist er formal gestaltet?

      –Wer äußert ihn?

      –Welche Situation referiert er?

      –Wann ereignet er sich?

      –Welche Vokabeln und Sprachregister werden benutzt?

      –Wie gebraucht er die Sprache?

      –Mit welchen poetischen Verfahren und nach welchen Anordnungsregeln wurde er verfasst?

      –Welche Assoziationen weckt er?

      –Wie verhalten sich seine unterschiedlichen „Kanäle“ zueinander?

      –Hat er eine Zweitbedeutung? Und wenn ja, welche?

      –Welche Funktionen erfüllt er?

      –Welche Sprechakte stellt er aus?

      –Wird er gehört oder gelesen?

      –In welchen Kontext gehört er und in welchem wird er geäußert?

      –Wie wirkt er auf mich?

      –Wie gehe ich mit ihm um?

      –usw.

      Fragen dieser Art erweisen sich im Umgang mit Texten erfahrungsgemäß als durchaus anregend. Natürlich ist nicht jede für jedes Gespräch gleich produktiv und je nachdem, welche man stellt, entwickelt sich eine unterschiedliche Gesprächsdynamik. Häufig ist es sinnvoll, sich vom eigenen Erkenntnisinteresse leiten zu lassen, manchmal allerdings auch, ein paar Fragen „ins Blaue hinein“ zu stellen.

      Erstverständnis

      Zu Beginn empfehle ich stets, sich seines Erstverständnisses des Textes bewusst zu werden, grundsätzliche Verständnisprobleme mit einzelnen Wörtern auszuräumen (etwa mittels Lexikon und Wörterbuch) und erste Beobachtungen und Auffälligkeiten festzuhalten. Offensichtlich handelt es sich um einen Text über zwei Segelboote in einer Bucht, die sich vom Wind getrieben stets gleichartig bewegen. Bereits beim ersten Lesen wittere ich zudem eine „heimliche“ Metaphorik, nach der die Segel wohl stellvertretend für zwei Menschen stehen; womöglich um zwei in enger Beziehung zueinander. Um das Gespräch mit dem Text nicht enden zu lassen, bevor es überhaupt begonnen hat, notiere ich mir ein paar Fragen, die sich für mich aus meinem Erstverständnis ergeben, z. B.: Wieso handelt der Text von zwei Segelbooten, wenn es doch anscheinend um Menschen geht? Wie kommt der Eindruck einer zweiten Bedeutungsebene zustande? Um was für eine Art von Beziehung handelt es sich? etc. Diese möchte ich im Laufe des Gesprächs mit dem Gedicht nach Möglichkeit klären. Dabei muss ich allerdings aufpassen, mein Erstverständnis nicht allzu selbstbewusst als einzig mögliche Verständnismöglichkeit anzunehmen und dabei Unverständlichkeiten und Ambiguitäten zu übersehen. Oft ist es sehr hilfreich und ergiebig, auch andere nach ihrem Ersteindruck zu befragen und den Kreis der Gesprächsteilnehmer zu erweitern. Vielleicht haben diese einen wesentlich anderen Ersteindruck, der sich produktiv abgleichen ließe.

      In einem zweiten Schritt versuche ich in der Regel, den Text inhaltlich zusammenzufassen. Mein Angebot für die erste Strophe lautet knapp: Zwei Segelboote fahren in eine Bucht. Bei näherem Hinsehen muss ich mich (und den Text) allerdings fragen, wieso ich so selbstverständlich davon ausgehe, dass es sich um zwei Boote handelt. Könnte mit den zwei Segeln nicht auch ein Boot mit zwei Masten bezeichnet sein? Denkbar wäre auch, dass es sich nur um ein Boot mit einem Segel handelt, das sich im Wasser spiegelt und dadurch die zuvor dunkle Wasseroberfläche erhellt. Wenn ich Studierende nach ihren Vorstellungen befrage, geben in Regel etwa genauso viele ein wie zwei Boote an. Gegenüber meiner Inhaltsangabe ließe sich auch einwenden, dass das (die) Boot(e) nicht einführe(n), sondern sich bereits in der Bucht befände(n) oder gar unmittelbar davor stünde(n) aufzubrechen. Für die „Einfahrtshypothese“ spricht der Vorgang des Erhellens (Z. 1): die zuvor dunkle Bucht wird demnach durch die eben auftauchenden (womöglich weißen) Segel erhellt und damit der Ankunftsmoment markiert. Auf der anderen Seite scheint mir der Vorgang des „sich zur Flucht Schwellens“ (Z. 3) als Marker des unmittelbar bevorstehenden Aufbruchs. Warum dieses merkwürdige Changieren zwischen Ankunft und Abfahrt?, notiere ich mir als offene Frage an den Text.

      Inhaltsangabe

      Die Inhaltsangabe der beiden Folgestrophen birgt für mich indes weniger Diskussionsstoff und lautet in etwa: Beide Segel verhalten sich jeweils synchron, d. h. sie wölben sich im Wind jeweils genauso stark oder schwach bzw. bewegen sich genauso schnell oder langsam wie das andere. Mit diesen Erstbefunden auf dem Zettel widme ich mich meinem ersten Beobachtungsaspekt: der sprachlichen Medialität.

      1Vgl. etwa die derzeitigen Definitionsbemühungen des DFG geförderten NETZWERKS LYRIKOLOGIE. KONTUREN EINES FORSCHUNGSFELDES.

      2Vgl. etwa Dieter Burdorf: „Lyrik ist die literarische Gattung, die alle Gedichte umfaßt“ (Burdorf 2015, S. 20).

      3Klotz 2011, S. 32.

      4Lamping 1989, S. 63.

      5Burdorf 2015, S. 21.

      6Lamping 2007, S. 669.

      7Beim konsonantischen Reim unterscheiden sich die Reimwörter nicht wie beim Endreim im Anlaut, sondern im Vokal der Stammsilbe (siehe Kap. 10).

      8Vgl. etwa Strobel 2015, S. 23.

      9Vgl. etwa Pfeiffer 2010, S. 54.

      10Vgl. etwa den Begriff der lyrischen Präsenz bei Petra Anders (Anders 2013, S. 46).

      11Schläbitz 2007, S. 10. Schlaffer zufolge sind Gedichte weniger stark von ihrem historischen Kontext beeinflusst als alle anderen Textsorten: „Alle Werke sind geschichtlich lokalisiert, aber sie gehen nicht in dieser Umgebung auf. Bereits durch ihre immanenten Formstrukturen (z. B. Metrum und Reim) heben sie sich bewußt als imaginative Synthesen inselhaft aus dem Fluß der Geschichte heraus.“ (Schlaffer 1985, S. 394).

      12Bode 2001, S. 14.

      13Volker Klotz spricht in diesem Zusammenhang etwa von der „All- und Alleinperspektive“ des lyrischen Ichs wie auch von dessen „All- und Alleinstimme“ (Klotz 2011, S. 35).

      14Spinner 1975, S. 17.

      15Vgl. etwa Waldmann 2003, S. 111 oder Schlaffer 1995, S. 40.

      16Vgl. etwa Müller 2011, S. 19.

      17Pielow 1978, S. 47.

      18Vgl. etwa Crystal 1993, S. 73.

      19Werner 2010, S. 5.

      20Klotz 2011, S. 47.

      21Vgl. etwa Kliewer und Kliewer 2002, S. 177.

      22Vgl. etwa Kaspar Spinner: „In der Prägnanz lyrischer Sprache liegt begründet, daß Verse häufig zu einem Aha-Erlebnis führen: Der Leser findet plötzlich treffend in Sprache gefaßt, was er erlebnismäßig diffus erfahren hat.“ (Spinner 2008, S. 6).

      23Vgl. etwa Anders 2013, S. 49. Hartmut Vollmer spricht sich zu Beginn seiner Verstheorie generell für eine deutlichere Bewusstmachung des liedhaften Wesens von Versen aus. Schließlich würden Verse „normalerweise gesungen“ (Vollmar 2008, S. 5) und auch der literarische Sprechvers habe sich „überall aus dem gesungenen Vers entwickelt“ (ebd.).

      24Vgl. vor allem Fricke 1981.

      25Anders 2013, S. 76.

      26Vgl. etwa Link 1976, S. 37.

      27Kliewer und Kliewer 2002, S. 105.

      28Vgl. etwa Kammler 2009, S. 5.

      29Hempfer 2014, S. 30.