Sprachbewusste Gedichtanalyse. Fabian Wolbring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Wolbring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846350355
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Kennzeichen von Gedichten, von denen ich die gängigsten im Folgenden kurz und überblicksweise vorstellen und an einem Beispiel auf ihre Tauglichkeit hin prüfen möchte.

      Mein Beispiel stammt aus Loriots berühmtem Fernseh-Sketch WEIHNACHTEN BEI HOPPENSTEDTS aus dem Jahr 1978. Der propere Familienspross Dicki wird von Mutter Hoppenstedt aufgefordert, unterm Tannenbaum ein Gedicht aufzusagen und Dicki skandiert unaufgeregt die drei Worte:

      Zicke, Zacke – Hühnerkacke.

      Ist das nun ein Gedicht? Aus Mutter Hoppenstedts Reaktion („Nein, das nicht.“), lässt sich ableiten, dass sie Dickis Aussage zwar als unpassendes, aber eben doch als Gedicht anerkennt. Und aus literaturwissenschaftlicher Perspektive?

      Lyrik als Gattung

      Die Frage, ob ein Text ein Gedicht sei oder nicht, erscheint hier als eine Frage nach der Gattung. Klassischerweise werden mit Epik, Dramatik und Lyrik drei Großgattungen unterschieden, wobei Gedichte mehrheitlich oder sogar vollständig letztgenannter zugehören sollen.2 Abgegrenzt wird diese Gattung dabei häufig durch Negativbefunde. Im Gegensatz zu den Texten der Epik wären Gedichte etwa konstitutiv „fabellos“,3 d. h. sie erzählten grundsätzlich keine Geschichten. Im Gegensatz zu den Texten der Dramatik, die stets dialogisch seien, handle es sich bei Gedichten konstitutiv um „Einzelreden“4, die zudem nicht „auf szenische Aufführung hin angelegt“5 wären. Für Dickis Text ließe sich all dies nun durchaus bestätigen (wobei der Vortrag wohl auch etwas von einer „Aufführung“ hat), aber dass dies ausreicht, um einen beliebigen Text als Gedicht zu erkennen, scheint fragwürdig.

      Formale Kennzeichen

      Im REALLEXIKON DER DEUTSCHEN LITERATURWISSENSCHAFT findet sich eine sehr knappe, rein formale und anscheinend recht verbindliche Minimaldefinition von Gedicht, die da lautet: „Text in Versen“6. Obgleich sich auch die offenkundige Anschlussfrage, was denn nun eigentlich ein Vers sei, trefflich diskutieren ließe (siehe Kap. 9), erfüllt Dickis Aussage dieses Kriterium geradezu bravourös: Acht trochäisch geordnete Silben (betont/unbetont) formen zwei Verse mit deutlicher Zäsur dazwischen. Darüber hinaus erfüllt der Text mit seinen markanten Endreimen („Zacke“ auf „-kacke“), wie auch mit dem konsonantischen Binnenreim („Zicke“ auf „Zacke“),7 das landläufig wohl verbreitetste Klassifizierungs-Kriterium des „Gereimtseins“ (siehe Kap. 10). Und auch das ebenfalls formale Kriterium der „relativen“ Kürze8 lässt sich attestieren.

      Landläufig wird die Gattung zuweilen auch inhaltlich oder thematisch bestimmt. So wird sie etwa häufig als „Affektgattung“ aufgefasst, die konstitutiv von einem „lyrischen Ich“ handle, das durch das Gedicht seine Emotionen zum Ausdruck brächte.9 Entsprechende Liebes- oder Sehnsuchtsgedichte zählen sicher zu den populärsten Texten der Gattung, doch in Dickis Fall ist davon zunächst nichts zu entdecken (auch wenn man durchaus Rückschlüsse auf dessen Gefühlslage ziehen könnte [s. u.]). Ebenfalls schwierig erscheinen inhaltliche Bestimmungsversuche, nach denen Gedichte stets bestimmte Augenblicke oder Situationen einfangen.10 Davon ist bei Dickis Text nichts auszumachen. Eher fängt der Sketch eine Situation ein (Weihnachtsabend) und Dickis Verse bilden eine grundsätzlich situationsunabhängige, beliebig rekontextualisierbare Einheit. Auch die Einschätzung, Gedichte lieferten „prägnant[e] Zeitdiagnosen“11 ihrer jeweiligen Epoche, überzeugt in diesem Fall nicht. Der Sketch mag das deutsche Spießertum der späten 70er portraitieren oder persiflieren, doch Dickis Worte wirken als typische Kinderverse merkwürdig ahistorisch.

      Inhaltliche Kriterien

      Insgesamt passender erscheinen da Bestimmungsversuche, nach denen der Inhalt bei einem Gedicht eben keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, weshalb es als „semantisch entlasteter“ Text besonders „ästhetisch“ wirken könne (s. u.). Oder geht es womöglich wirklich um Hühnerkacke? Vielleicht solche, die im „Zickzack“, also kreuz und quer im Hühnerstahl verteilt wurde? Und wie verhält es sich mit der These, Gedichte hätten als „autoreferentielle Texte“12 stets sich selbst zum Inhalt? Trifft dies auf ein „Zicke, Zacke – Hühnerkacke.“ auch zu?

      das „lyrische Ich“

      Nicht einmal ein explizites „lyrisches Ich“ taucht im Gedicht auf, das ebenfalls gelegentlich als bestimmendes Merkmal der Gattung angegeben wird.13 Aber gibt es nicht immer ein Äußerungssubjekt, also jemanden, der das „Zicke, Zacke – Hühnerkacke.“ notwendigerweise spricht oder gesprochen haben muss (siehe Kap. 2)? Kaspar Spinner definiert das „lyrische Ich“ als „Leerdeixis“14, d. h. als unbesetzte Sprecherrolle, die weder vom Autor noch von einer näher bestimmbaren Figur eingenommen wird.15 Tatsächlich erscheint auch unser Gedicht weder als die unmittelbare Aussage der Figur Dicki (die eher zu rezitieren scheint), noch als die des Sketch-Autors Loriot. Vermutlich ist Loriot auch nicht der Autor des Gedichts, sondern es handelt sich um jahrzehntelang bekannte Verse eines längst vergessenen Urheber-Kindes, die – ganz im Sinne einer Leerdeixis – bereits von zahllosen Sprecherkindern zitiert und adaptiert wurden. Aber wäre ein Verstext, bei dem das Äußerungssubjekt eindeutig einem Autor oder einer Rolle zuzuschreiben ist, demnach kein Gedicht?

      poetische Sprache?

      Häufig liest man auch, Gedichte seien durch eine eigene, eben „poetische Sprache“ gekennzeichnet, die von der „Normalsprache“ zu unterscheiden sei.16 Aber wodurch? Etwa durch ein eigenes Vokabular? Die Worte „Zicke“ und „Zacke“ – insbesondere im Zusammenspiel – erscheinen mir tatsächlich nicht dem alltagssprachlichen Lexikon zuzugehören; „Hühnerkacke“ indes schon. Es ist offensichtlich nicht Teil jener gedichtexklusiven „gesteigerten Sprache“, die, dem Literaturdidaktiker Winfried Pielow zufolge, „auch noch das ‚Zarteste‘ sagen kann“,17 und auch nicht jenes konventionellen Registers „poetischer Sprache“, das Begriffe wie Ach! und Weh!, Herzeleid, Nymphe oder Windeshauch enthält.18 Reicht das aus, um Dickis Versen den Status „Gedicht“ abzuerkennen? Dass Gedichte gemeinhin einen entsprechend erhabenen Stil oder „hohen Ton“ erwarten lassen, zeigt sich daran, dass dessen Nichtentsprechung letztlich die Komik des Sketches generiert. Von einer gedichttypischen „verdichteten Bildsprache“,19 die sich wohl etwa im metaphorischen bzw. symbolhaften Gebrauch von Begriffen wie Rose, Schiff oder Sonne niederschlägt, ist bei Dicki ebenfalls nichts zu erkennen. Zumindest fiele mir nichts ein, wofür die Hühnerkacke hier Symbol oder Metapher sein könnte. Die poetische Sprache von Gedichten – so liest man – sei dazu imstande, im „synästhetischen Vollzug“20 mehrere Sinneswahrnehmungen zu verschränken, doch Dickis Zeilen erwecken in mir (zum Glück) weder bildliche, noch haptische oder gar olfaktorische Vorstellungen. Mal liest man, die Sprache im Gedicht zeichne sich durch ihre Mehrdeutigkeit aus21 und mal durch ihre Prägnanz und darstellerische Genauigkeit.22 Mal gilt sie als besonders hermetisch (also verschlossen) und mal als genuin assoziativ; ein anderes Mal als besonders klangvoll, harmonisch oder gar musikalisch.23 Letzteres mag auf Dickis Verse, die tatsächlich den Charakter eines Spottliedes haben, durchaus zutreffen, aber der Rest? Mir fällt es schwer, in den Zeilen einen klaren Sinn zu erkennen, aber ist es deswegen schon hermetisch oder mehrdeutig? Ich finde sie (vor allem im Weihnachtsabendkontext) auch durchaus drastisch; aber besonders prägnant oder genau?

      Für unser Vorhaben, im Gespräch mit Gedichten die Wirkungsweise von Sprache zu reflektieren, erscheint mir die Vorannahme, Gedichte würden eine genuin „andere“ Sprache verwenden als andere Texte, nicht zielführend. Eher nutzen sie dieselbe Sprache wie alle auf gedichtspezifische Weisen, um die oben genannten Effekte (oder auch andere) zu generieren. Ihre AutorInnen wenden womöglich bestimmte Verfahren bei der Erstellung eines Gedichtes an, d. h. sie folgen (bewusst oder unbewusst) bestimmten Regeln und Grundsätzen (Poetiken) bei der Konzeption ihrer Texte und produzieren so den Eindruck von Poetizität, d. h. eines ungewöhnlich kunstvollen Sprachgebrauchs. Aber was genau macht diese Verfahren aus?

      Normen im Gedicht

      Gelegentlich