Sprachbewusste Gedichtanalyse. Fabian Wolbring. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Fabian Wolbring
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846350355
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würden. Für Dickis Verse ließe sich etwa feststellen, dass sie keinen vernünftigen deutschen Satz bilden, weil ihnen das Prädikat fehlt. Andererseits liest man auch, dass Gedichte dadurch gekennzeichnet wären, dass sie vielmehr zusätzlichen Anordnungsregeln folgten, die im alltäglichen Sprachgebrauch missachtet würden. Typischerweise sind dies (wie bei Dicki) Vers- oder Reimmuster, die eingehalten werden (müssen?), möglicherweise aber auch Prinzipien wie eine festgelegte Wortanzahl, bestimmte Lautmuster (z. B. nur „dunkle“ Vokale) oder auch ein bestimmtes Vokabular (z. B. viele „Farbwörter“). Muster entstehen dabei vor allem durch Wiederholungsstrukturen und Rückbezüge (Rekurrenzen) im Text, zumeist in Form von Variationen.

      Überstrukturiertheit

      Besonders beliebt ist die Vorstellung, der Sprachgebrauch im Gedicht sei dadurch gekennzeichnet, dass er Form und Inhalt in Einklang brächte, also eine „Gestalt-Gehalt-Korrespondenz“25 generiere. Das Wie der Darstellung entspräche folglich dem Was des Inhalts, etwa indem ein wilder Galopp in einem entsprechend „galoppierenden“ Sprechrhythmus umgesetzt oder eine traurige Stimmung mit vielen dunklen Vokalen „orchestriert“ würde. Gerade in diesem Zusammenhang taucht im theoretischen Diskurs gelegentlich der Begriff der Überstrukturiertheit von Gedichten auf. Überstrukturiertheit bedeutet, dass die Sprache in Gedichten auf unterschiedlichen Ebenen bedeutungstragend eingesetzt wird.26 Während in der Alltagssprache die Sätze und Wörter vorwiegend semantisch eindeutig in ihrer lexikalischen Grundbedeutung (Denotation) benutzt würden, seien im Gedicht auch assoziative Nebenbedeutungen (Konnotationen) relevant und auch der Klang der Wörter und der Rhythmus der Verse würden bedeutungstragend eingesetzt. Demnach kommuniziert ein Gedicht also „mehrkanalig“ und die dadurch gleichzeitig vermittelten Botschaften können zueinander in Beziehung gesetzt werden. Klappt das auch bei Dicki? Nun ja, man könnte etwa sagen: das Wort „Hühnerkacke“ hat neben seiner denotativen Bedeutung als Bezeichnung für Unrat, diverse konnotative Nebenbedeutungen durch seine Assoziationen mit Unwerten, Unnützem, Schmutzigem, Lächerlichem, aber auch Ländlichem, Bäuerlichem etc. „Zicke, Zacke“ hat anscheinend keine unmittelbare denotative Bedeutung (s. o.). Oder ist mit Zicke doch eine weibliche Ziege gemeint (die ja thematisch gut zum Huhn passen würde)? Immerhin wird dieses Wort vielfach auch figurativ und abwertend für „launische Frauen“ verwendet. Für mich klingt die Wortfolge aber eher nach Tempo und Bewegung; ähnlich wie zackig oder Ruckizucki oder auch nach Hin und Her. Reim und Rhythmus verhelfen den Worten dann zudem zu einer liedhaften Komponente, die ihnen den Charakter eines Spottliedes verleihen, vergleichbar mit dem trotzigen Näh-NähNäh-Näh-Näh eines entwischten Kindes beim Fangenspiel. Lassen sich die vermeintlichen „Bedeutungen“ der unterschiedlichen Ebenen denn nun sinnvoll zu einer einzigen Bedeutung zusammenführen? Womöglich gar zu einer Botschaft oder „Lehre“27 für die Leser? Ist das überhaupt nötig? Und welche könnte das sein? Und wer hat sie dort „versteckt“?

      Funktionen eines Gedichtes

      Man könnte die Bedeutung von Dickis Versen an ihrer Funktion festmachen. Etwa indem man sagt, sie dienten als Provokation der Mutter. Eine solche Funktion hängt dabei gar nicht notwendigerweise von den expressis verbis behandelten Inhalten oder vom Sprachgebrauch ab, sondern wohl eher an der kommunikativen Absicht des Äußerungssubjektes. Tatsächlich sind auch einige der gängigen Bestimmungsversuche von Gedichten in dieser Art und Weise funktionsorientiert. Die Selbstaussprache gilt dabei als besonders typische Funktion eines Gedichtes,28 selbst wenn der Text die Emotionen und Gefühle nicht explizit erwähnt. Dickis stoische Coolness ließe sich daher vielleicht als bewusst ausgestellter Anti-Affekt interpretieren bzw. als Beleg von Affektkontrolle, als Ausdruck von Langeweile oder als rebellischer Akt gegenüber der biederen, aufoktroyierten Weihnachtsidylle. Dass Sprechakte – also durch sprachliche Äußerungen vollzogene Handlungen – das Wesen von Gedichten bestimmen, ist seit Heinz Schlaffers einflussreichem Aufsatz SPRECHAKTE DER LYRIK eine verbreitete Annahme der Lyriktheorie (siehe Kap. 5). Gedichte dienten etwa dem Loben, Klagen, Mahnen, Danken, usw. Allerdings liest man auch, dass sie als „Performativitätsfiktionen“29 lediglich der Ausstellung oder literarischen Fingierung von Sprechakten dienten. Aber welchen Sprechakt stellt Dicki hier eigentlich aus? Eine genaue Bestimmung scheint schwierig.

      Exponierung der Sprache

      Mancher erkennt das Wesen des Gedichts denn auch in dessen Absichts- und Funktionslosigkeit.30 Es sei „entpragmatisiert“ und diene folglich – anders als ein Sach- oder Alltagstext – nicht der unmittelbaren Vermittlung von Informationen oder der Referenz eines lebenswirklichen Sachbestandes und auch nicht dem Vollzug eines lebenspraktischen Sprechaktes. Auf Dickis Nonsense-Verse könnte dies durchaus zutreffen. Allerdings erweist sich die Funktionslosigkeit von Gedichten bei näherer Betrachtung zumeist gar nicht als funktionslos. So dient sie dem Literaturwissenschaftler Jonathan Culler zufolge dem foregrounding der Sprache, also ihrer Exponierung als Medium (siehe Kap. 2).31 Damit schließt Culler seinerseits an Überlegungen des Strukturalisten Roman Jakobson an, der verschiedene Funktionen sprachlicher Äußerungen unterschieden und untersucht hat. Als poetische Funktion der Sprache bestimmt er dabei diejenige, bei der die „Einstellung auf die Nachricht als solche, die Zentrierung auf die Nachricht um ihrer selbst willen“32 dominiert. Bezogen auf unser Beispiel hieße das, Dickis Verse sind vor allem ästhetischer Selbstzweck. Sie werden gesprochen weil sie „gut“ klingen. Durch Rhythmus und Reim werde das Wortmaterial selbst in den Mittelpunkt des Interesses gerückt, also seine Lauteigenschaften und spezifische Anordnung.

      rituelle Texte

      In vielerlei Hinsicht entsprechen Dickis Verse somit auch einem Ideal, nach dem ein Gedicht stets für den mündlichen Vortrag33 oder gar für den Gesang bestimmt ist. Schließlich wird der „Zicke, Zacke!“-Schlachtruf auch in Fußballstadien skandiert. Allerdings kursiert auch ein anderes Gedichtideal, nach dem Gedichte dezidiert Schriftprodukte sein sollten, die geschrieben und gelesen werden müssten.34 Ursprünglich wurden Gedichte wohl vor allem als Bestandteil von Ritualen realisiert, d. h. dass die frühesten Gedichte womöglich zeremonielle Texte wie Gebete, Zaubersprüche oder Beschwörungsformeln waren. Dickis Verse könnten als typische Auszähl- oder Spottverse betrachtet werden, wie sie vielfach Kinderspiele begleiten. Die Komik des Sketches erklärt sich dann daraus, dass das Weihnachtsfest einen ganz anderen Typ von zeremoniellem Begleitgedicht erwarten lässt.

      Mit Blick auf modernere Ausprägungen der Lyrik wird inzwischen auch die Meinung vertreten, dass es letztlich nur der Kontext und die Rahmung sei, die aus einem Text (oder womöglich auch jeder anderen Daseinsform) ein Gedicht machten.35 Ein Text, der in einer Lyrik-Anthologie erscheint, auf einer als Dichterlesung deklarierten Veranstaltung deklamiert oder in einem Lyrikseminar präsentiert wird, würde demnach als Gedicht rezipiert, auch wenn er kein einziges der bisher erwähnten Kriterien erfüllt. In Dickis Fall hieße das, dass die Ankündigung der Mutter alleine jede Äußerung Dickis als Gedicht erscheinen lassen würde. Wenn Dicki allerdings erwidert hätte: „Nee, kein Bock!“, hätte das wohl niemand als Gedicht interpretiert, oder?

      Kontext und Rahmung

      Wäre der Satz in Peter Handkes Gedichtband DIE INNENWELT DER AUSSENWELT DER INNENWELT erschienen, vermutlich schon. Diesem entstammt nämlich das beliebteste Beispiel für ein einzig durch den Kontext erkennbares „ready-made“-Gedicht DIE AUFSTELLUNG DES 1. FC NÜRNBERG VOM 27.1.1968:

      Wabra

      LeupoldPopp

      Ludwig MüllerWenauerBlankenburg

      StarekStrehlBrungsHeinz MüllerVolkert

      Spielbeginn:

      15 Uhr

      Anscheinend handelt es sich hierbei um einen ursprünglich literaturfernen Gebrauchstext, womöglich aus einer Sportzeitschrift, die lediglich über die Aufstellung einer Fußballmannschaft informieren will und dabei keine poetischen Absichten verfolgt. Aber erfüllt er nicht doch wesentliche Kriterien eines Gedichtes? Zumindest ließen sich die einzelnen Zeilen durchaus als Verse auffassen. Auch das Kriterium der Kürze ist erfüllt. Und die Worte „Starek“ und „Strehl“