Mehrsprachigkeit und Bildung in Kitas und Schulen. Elke Montanari. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Elke Montanari
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783846351406
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nicht einsprachig. In sprach- und erziehungswissenschaftlichen Publikationen der letzten Jahre wird betont, dass Dialekte oder Regionalsprachen wie „die Sprache des Ruhrgebiets“ oder „das Berlinische“ ebenfalls zur deutschen Sprache gehören: Die Sprachverwendungspraxis Einsprachiger umfasst sowohl einen standardisierten, primär an der Schriftsprache orientierten Sprachgebrauch als auch den Gebrauch der Alltagssprache, der „Sprache des vertrauten Umgangs“ (Ehlich, Bredel, Reich 2008:15). Eine Priorisierung der (deutschen) „Bildungssprache“ als der (einzigen?) Sprache der Bildung (zu einer kritischen Betrachtung siehe auch Kapitel 3) lässt sich somit nicht legitimieren: List hat diesbezüglich in ihrem Beitrag mit dem Titel „‚Bildungssprache‘ in der Kita“ aufgezeigt, dass „der Kontrast Alltags- gegen Bildungssprache“ mit herkömmlichen „Antinomien“ und „Dichotomien“ sowie mit einer „Wertigkeit der Sprachvarietäten“ zusammenhängt, und dies, obwohl nicht nur eine standardisierte Sprachform dafür geeignet ist, kindliche Bildungsprozesse im KiTa-Alltag lernförderlich zu begleiten (vgl. List 2010:185). Allerdings gehören Bildungseinrichtungen zu den bedeutendsten Institutionen der Sprachenpolitik, denn sie beeinflussen

      vom Kindergarten über die Schule bis zur Universität und zu Institutionen der Erwachsenenbildung (…) Sprachgebrauch und Spracherwerb zunächst explizit (…). Aber auch implizit sind sie maßgeblich daran beteiligt, Sprachstandards festzuschreiben und durchzusetzen.

      (Marten 2016:35)

      Die Vorstellung einer reinen einsprachigen Sprachpraxis in ausschließlich einer legitimen Sprachvarietät (‚Standardsprache‘ oder ‚Bildungssprache‘) erweist sich aufgrund von Beobachtungen in der frühpädagogischen Praxis als Illusion. Beispielsweise lässt sich in der deutschsprachigen Schweiz auch in didaktischen Settings, die als Förderung der sogenannten ‚Hochsprache‘ oder ‚Standardsprache‘ deklariert werden, durchgängig das Phänomen der Sprachmischung beobachten, obwohl das Gebot einer strikten Sprachentrennung in Form einer institutionellen ‚Diglossie‘ nach wie vor verbreitet ist (vgl. Kassis-Filippakou/Panagiotopoulou 2015; Panagiotopoulou/Krompàk 2014; Panagiotopoulou/Kassis 2016). Als institutionelle Sprachenpolitik (vgl. Marten 2016:35-36) steht eine solche Vorgehensweise im Kontrast zur Alltagsrealität mehrsprachiger Kinder, insbesondere in offiziell mehrsprachigen Gesellschaften wie z.B. in der Schweiz oder in Luxemburg. Aus sprachdidaktischer Perspektive betrachtet ist diese herkömmliche Sprachenpolitik insgesamt problematisch, da sie neuere Erkenntnisse über den dynamischen mehr- und quersprachigen Erwerb im Kindesalter (siehe Kapitel 2.2), sowie über aktuelle Konzepte einer inklusiven mehrsprachigen Bildung (siehe Kapitel 2.3 und 2.4) kaum berücksichtigt.

      2.2 Quersprachigkeit: zur translingualen Logik des dynamischen Mehrspracherwerbs

      Im deutschsprachigen Raum beschreibt der Begriff „Quersprachigkeit“ den „multiplen Sprachgebrauch“ mehrsprachiger Menschen, indem er sich auf „ein im pragmatischen Sinn verändertes Verständnis von Sprache“ bezieht (Rösch 2009:235). Mehrsprachige Kinder erwerben und gebrauchen ihre Sprachen nicht nacheinander oder parallel zueinander, sondern dynamisch und komplementär. Sie bekommen die Gelegenheit, ihre „quersprachige Kompetenz“ zu entwickeln, indem sie mit Sprachen spielen, diese wechselnd verwenden oder mischen bzw. „quer durch sie hindurch“ handeln lernen (Günther List 2004:133; vgl. Gudula List 2013:185). Der Begriff Quersprachigkeit ergänzt somit den Begriff Mehrsprachigkeit und soll

      die translinguale Logik eines Sprachenlernens markieren, bei dem sprachpsychologisch […] die metasprachlichen und metakognitiven Leistungen im Vordergrund stehen: Sprachen durch Sprachen (hindurch) Lernen und Gebrauchen, quer durch Sprachen hindurch Handeln.

      (List 2004:139; Hervorhebung i.O.)

      Für den Erwerb einer neuen Sprache ist es zwar unerlässlich, dass auch entsprechende Bildungsangebote im Alltag der Kindertageseinrichtung gemacht werden und dass die zu erlernende Sprache nicht nur in der Kindergruppe kommunikativ eingesetzt wird (vgl. List 2013:186). Dies bedeutet aber nicht, dass immer und unter allen Umständen ausschließlich die sogenannte Zielsprache bzw. die (zukünftige) Schul- und Unterrichtssprache verwendet werden soll. Das Beharren auf Einsprachigkeit in der frühpädagogischen Praxis ignoriert die heteroglossische Realität in Migrationsgesellschaften (zum Begriff Heteroglossie siehe Kapitel 1) und somit auch die realen Bedingungen mehrsprachiger Sozialisation in (neu) zugewanderten Familien. Im Gegensatz dazu verweist das Konzept eines dynamischen Mehrspracherwerbs (Riehl 2014:15) bzw. der Ansatz eines „dynamic bilingualism“ (García/Li Wei 2014:14) auf die Flexibilität mehrsprachiger Praxis: Denn „the language practices of bilinguals are complex and interrelated“, sie entstehen nicht linear und funktionieren auch nicht getrennt voneinander (ebd.). In mehrsprachig organisierten familialen Situationen und in Bildungseinrichtungen werden die zu erwerbenden Sprachen und Sprachvarietäten nicht als Entitäten, etwa autonom, erworben oder gelernt (vgl. Panagiotopoulou 2016:16f.). Mit dem Begriff dynamischer Mehrspracherwerb sollen additive Vorstellungen von der kindlichen Sprachentwicklung überwunden werden, denn:

      Sprachwissen und Sprachkompetenz eines Mehrsprachigen [bestehen] nicht aus getrennten oder trennbaren Subsystemen (L1, L2, L3 usw.), sondern bilden ein holistisches dynamisches System, in dem jede Veränderung Auswirkungen auf alle Subsysteme hat.

      (Riehl 2014:15)

      Aktuelle neurolinguistische Studien zur mehrsprachigen Entwicklung bestätigen und übertreffen sogar die bekannte Interdependenzhypothese, „showing that even when one language is being used, the other language remains active and can be easily accessed“ (García/Li Wei 2014:14).

      Mit dem theoretischen Konzept „translanguaging“ ist diese Komplexität beim Erwerb und Gebrauch mehrerer Sprachen jenseits von einsprachigen Normen zu beschreiben. Bereits mehrsprachige Kinder verfügen über ein Sprachenrepertoire, „one linguistic repertoire from which they select features strategically to communicate effectively“ (García 2011a:1). Ähnlich haben Jørgensen, Karrebæk, Madsen und Møller die Bezeichnung „polylingual languaging“ in die Fachdiskussion eingeführt, um die Kommunikationspraxis von mehrsprachigen Kindern und Jugendlichen im Kontext von durch (sprachliche) Diversität geprägten Migrationsgesellschaften zu beschreiben (vgl. Jørgensen, Karrebæk, Madsen, Møller 2011).

      Indem Mehrsprachige situativ passend, flexibel, mehr- und quersprachig bzw. translingual handelnd lernen, lernen sie auch in mehrsprachigen Situationen angemessen zu kommunizieren (vgl. García/Li Wei 2014:22). Translanguaging legt den Fokus auf die Praxis des sprachenübergreifenden ‚languaging‘, auf die individuelle und originelle Sprachverwendungspraxis der Sprecherinnen und Sprecher: „the speaker’s complete language repertoire“ (vgl. ebd.:109f.). Die Beschreibung von Sprachlichkeit oder Sprachigkeit setzt die Betrachtung von Sprache als soziale Praxis (und nicht nur als System) voraus:

      Translanguaging takes the position that language is action and practice, and not a simple system of structures and discreet sets of skills. That’s why translanguaging uses an -ing form, emphasizing the action and practice of languaging bilingually.

      (García 2011a:1; Hervorhebung d. Panagiotopoulou)

      Canagarajah hat den Begriff „translingual practice“ eingeführt, um die dynamischen und fließenden „language practices in multilingual encounters“ zu konzeptualisieren (Canagarajah 2013:8, zit. nach García/Li Wei 2014:40). Es geht um den Versuch, die komplexe translinguale Praxis von mehrsprachigen Individuen in mehrsprachigen Kontexten als Realität anzuerkennen. Insbesondere für Kindertageseinrichtungen, wo junge Kinder gerade dabei sind ihre Sprache(n) zu erwerben, ist diese Betrachtungsweise besonders treffend und hilfreich, wenn es darum geht, ihre konkreten familialen Sozialisationsbedingungen zu berücksichtigen, ohne sie pauschal zu problematisieren.

      Die Fähigkeit mehrsprachiger Kinder, ihre „gesamten sprachlichen Ressourcen nutzen zu können“, wird „als Multicompetence bezeichnet“ (Riehl 2014:15; siehe dazu auch Kapitel 1). In der Praxis zeichnet sich diese Fähigkeit dadurch aus, dass Kinder den kommunikativen Anforderungen der jeweiligen Situation und ihren eigenen Bedürfnissen entsprechend ein- aber auch mehr-