Werfen wir einen Blick auf die heutigen Sprachen der Welt, so stellen wir fest, dass diese so unterschiedlich sind, dass ein Sprecher der Sprache A (z.B. Deutsch) einen Sprecher der Sprache B (z.B. Chinesisch) nicht verstehen kann, partiell aber einen der Sprache C (z.B. Niederländisch). Die Unterschiede bestehen im Lexikon und im Sprachbau. Prüfen wir in einem deutsch-englischen und deutsch-niederländischen Wörterbuch den Eintrag ›Buch‹ so finden wir ›book‹ und ›boek‹. Auch wenn die Wörter unterschiedlich sind, springen einem die Parallelen ins Auge, und man könnte die Hypothese aufstellen, dass, wenn man weiß, wie die Wörter ausgesprochen werden, alle drei Einträge systematisch den Laut b gemeinsam haben, dass der ch-Laut dem Laut k entspricht und das dt. u dem engl. und ndl. u-Laut, geschrieben oo bzw. oe. Es könnte Zufall sein – aus einem Beleg kann man noch nichts schließen –, es könnte aber auch ein systematischer Zusammenhang bestehen, insbesondere wenn man bedenkt, dass die Sprachen regional benachbart sind. Im chinesischen Wörterbuch finden wir den Eintrag, ausgesprochen wie dt. ›Schuh‹, aber mit einem Hochton verbunden, orthografisch auch <shū>. Anders als im Deutschen, Niederländischen und Englischen gibt es (a) keinen Silbenendrand, die Silbe ist offen; (b) ist der Anfangslaut ein anderer und (c) liegt zwar ein gemeinsamer Vokal vor, aber dieser ist mit einem Hochton verbunden (und dieser Ton hat sogar eine bedeutungsdifferenzierende Funktion). Die sprachlichen Gemeinsamkeiten sind deutlich geringer, die regionale Distanz zwischen dem Verbreitungsgebiet China einerseits und Europa andererseits ist groß. Man könnte die Hypothese aufstellen, dass das Chinesische nur wenig oder gar nicht in einem systematischen Zusammenhang zu sehen ist mit den drei europäischen Sprachen, aber wiederum gilt: Aus dem wenigen Sprachmaterial kann man keine weitreichenden Folgerungen ziehen.
Vergleicht man den Sprachbau der Sprachen der Welt und ihre diachronen Entwicklungen, so haben die evolutionär bedingten Aufspaltungsprozesse dazu geführt, dass es heute Sprachen gibt, die isoliert auftreten (das Baskische), und solche, die aufgrund von Verwandtschaftsverhältnissen zu größeren Gruppierungen zusammengefasst werden können, die miteinander genetisch verwandt sind. Man nennt die Makrogruppierungen Sprachfamilien. Man nimmt etwa 25 größere Sprachfamilien an, z.B. die indoeuropäische Sprachfamilie, die sinotibetische, Austroasiatisch, Uto-Aztekisch usw. (s. auch Tab. 3). Ziel der vergleichend-historischen Sprachwissenschaft ist es u.a., aus Verwandtschaftsbeziehungen Stammbäume zu rekonstruieren bis zu einer Protosprache, aus der sich die Sprachen einer Sprachfamilie ableiten lassen. Es gibt sogar den Versuch, bis an die Wurzel eines Stammbaumes aller Sprachen eine Ursprache zu rekonstruieren, eine allen Sprachen gemeinsame Vorgängersprache.
Sprachfamilie | Sprachen | Sprecherzahl (N in Mio.) | Verbreitung |
Indogermanisch | 220 | 3000 | Europa, Südasien, heute weltweit |
Sinotibetisch | 335 | 1288 | China, Südostasien |
Niger-Kongo | 1364 | 354 | West-, Zentral-, Südafrika |
Afroasiatisch | 311 | 347 | Nordafrika, Naher Osten |
Austronesisch | 1119 | 296 | Taiwan, Philippinen, Indonesien, Pazifischer Ozean, Madagaskar |
Dravidisch | 27 | 220 | Süd, Zentral-, Nordindien, Pakistan |
Turkisch | 37 | 160 | West-, Zentralasien, Osteuropa, Sibirien |
Japanisch-Ryukyu | 4 | 125 | Japan, Okinawa |
Tab. 3: Sprachfamilien mit N > 100 Mio.
Die Ausdifferenzierung der heutigen Sprachen und Sprachfamilien ist maximal bis zu Beginn des Holozän (um 11 700 v. Chr.) rekonstruierbar, so meinen die einen, andere glauben, dass die untere zeitliche Grenze bei 8000 v. Chr. liegt. Allgemein wird angenommen, dass die Ausdifferenzierung der Sprachen auch in diesem Zeitraum liegt. Gemessen an dem Alter der Sprache des Homo sapiens (s. Kap. 13) ist dies eine vergleichsweise junge Entwicklung. Am besten untersucht ist die indoeuropäische Sprachfamilie, die auch zugleich mit 3 Milliarden Sprechern die meistverbreitete Sprachfamilie ist. Auf der Basis sprachwissenschaftlicher, archäologischer, historischer und genetischer Untersuchungen wird angenommen, dass sich die erste Aufspaltung des Proto-Indoeuropäischen vor maximal 9500 Jahren vollzog.
August Schleicher (*19.2.1821 in Meiningen, †6.12.1868 in Jena)
August Schleicher wurde im thüringischen Meiningen geboren und studierte zunächst einige Semester Theologie und anschließend orientalische Sprachen, wobei er auch Hebräisch, Sanskrit, Arabisch und Persisch erlernte. Er promovierte und habilitierte in Bonn und wurde dort Privatdozent, bis er 1850 eine Professur für klassische Philologie und Literatur in Prag erhielt. Von 1857–1868 hatte er eine Professur für deutsche und vergleichenden Sprachwissenschaft und des Sanskrit in Jena inne, wo er am 6. Dezember 1868 verstarb.
Schleicher zählt zu den Mitbegründern der Indogermanistik und gilt als Vater der sog. Stammbaumtheorie in der vergleichenden Sprachwissenschaft. Aufgrund von Sprachvergleichung und parallel zur Evolutionstheorie in der Biologie rekonstruiert er die Sprachen der indoeuropäischen Sprachfamilie in Form eines Abstammungsbaumes. Die Ergebnisse finden sich in seinem 1861 publizierten berühmten Werk Compendium der vergleichenden Grammatik der indogermanischen Sprachen. In der Einleitung heißt es: Die Methodik der Sprachwissenschaft »ist im wesentlichen die der naturwißenschaften überhaupt; sie besteht in genauer beobachtung des objectes und in schlüßen, welche auf die beobachtung gebaut sind. Eine der hauptaufgaben der glottik [Sprachwissenschaft, P.S.] ist die ermittelung und beschreibung der sprachlichen sippen und sprachstämme, d.h. der von einer und der selben ursprache ab stammenden sprachen und die anordnung dieser sippen nach einem natürlichen systeme« (Schleicher 1961: 2). Interessant, wenn auch heute (zu) wenig beachtet, ist sein 1873 erschienenes Werk Die Darwinsche Theorie und die Sprachwissenschaft.
Die Komponenten indo- und -europäisch in der Bezeichnung der Sprachfamilie als indoeuropäisch oder auch indogermanisch deuten auf das Verbreitungsgebiet hin: die indische Gruppe im Osten und die europäische/germanische im Westen. Bereits 1786 wies der Indologe William Jones (1746–1794) Ähnlichkeiten des Sanskrit (Altindisch, hervorgegangen aus der Sprache der Veden) mit Griechisch und Latein nach. Das deutsche Wort ›Mutter‹ ist altindisch ma:tár-, gr. mé:te:r, lat. ma:ter. Als indoeuropäische Wurzel wird *ma:tér- angesetzt – der * gibt an, dass es sich um eine rekonstruierte Protoform handelt. Die Farbbezeichnung ›rot‹ geht zurück auf idg. *roudh-/ *rudh-. Aufgrund bestimmter lautlicher Merkmale wird die indoeuropäische Sprachfamilie traditionell in zwei Sprachzweige aufgeteilt, die Kentum- und die Satemsprachen nach (lat. centum und altiranisch satem für ›hundert‹), eine Unterteilung, die heute höchst umstritten ist. Zu den Satemsprachen sollen neben einer Reihe von indischen, iranischen und slawischen Sprachen die baltischen Sprachen, das Albanische und Armenische, zu den Kentumsprachen die germanischen Sprachen, keltische, italische Sprachen, Griechisch, Anatolisch, Tocharisch gehören.
Das Deutsche gehört wie das Englische und Niederländische zu den westgermanischen Sprachen. Man nimmt aufgrund vergleichender Studien an, dass das heute nicht mehr existierende Tocharische sich vor knapp 8000 Jahren abgespalten hat, das Griechisch-Armenische vor 7300 Jahren, das Albanisch-Persisch-Indische vor 7000 Jahren, das Keltische vor 6000 Jahren und das Italische und Germanische vor 5500 Jahren. Die Spaltungsprozesse