Wir haben versucht, so wie Desmond Morris 1967 erstmalig und damals provokativ, den Menschen als einen besonderen Primaten vorzustellen. So wie die Zoologen gewohnt sind, die Biologie einzelner Arten zu beschreiben und sich dabei auf die artspezifischen morphologischen, physiologischen und verhaltensökologischen Eigenschaften und Merkmale zu konzentrieren, haben auch wir den Menschen unter die Lupe genommen. Es mag dem Leser vorkommen, dass wir den neurobiologischen Aspekten vergleichsweise mehr Aufmerksamkeit als z.B. der Ernährung und Verdauung widmen. Wir möchten jedoch darauf hinweisen, dass der Mensch oft vor allem hinsichtlich seiner „Seele“, Intelligenz, Sprache, Emotionen etc. zu anderen Tieren abgegrenzt wird. Daher muss diesen Aspekten auch viel mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Gerade im Bereich der Humanbiologie, sofern diese sich nicht nur auf beschreibende Aspekte der Anatomie und Physiologie konzentriert, sondern vor allem erklären will, ist der von uns gewählte Weg in den letzten Jahren sehr dynamisch geworden. Als wir mit dem Projekt angefangen haben, wurde ein Review-Artikel mit dem Titel publiziert:
Hodgson J.A., Disotell T.A. (2008): No evidence of a Neanderthal contribution to modern human diversity. Genome Biology.
Das Manuskript des Buches war bereits fertig, als Ende Januar 2014 die folgenden Veröffentlichungen in Nature und Science erschienen:
Sankararaman S. et al. (2014): The genomic landscape of Neanderthal ancestry in present-day humans. Nature.
Vernot B., Akey J. M. (2014): Resurrecting surviving Neandertal lineages from modern human genomes. Science.
Und das war nur ein Ausschnitt einer unglaublich schnellen Entschlüsselung weiterer genomischer Daten, die uns in den letzten beiden Jahren tiefere Einblicke in die Evolution des Menschen erlaubten. So haben wir viele Passagen immer wieder aktualisieren, streichen, neu schreiben müssen. Und wir sind uns bewusst, dass einige Aussagen überholt sein werden, noch bevor dieses Buch in die Buchhandlung kommt. Unser Buch stellt damit eine Momentaufnahme über Erkenntnisse, Zusammenhänge, Fakten und Ideen einer sich rasant entwickelnden Disziplin dar – der evolutionären Humanbiologie. Es ist unsere Hoffnung, dass das Buch von den Studierenden und Dozenten wohlwollend akzeptiert wird und bald eine neue Auflage erlebt, die uns die Gelegenheit gibt, auf die dann sicher notwendigen neuen Entwicklungen sowie auf die Rückmeldungen der Leser zu reagieren.
Danksagung, Widmung
Für die Illustrationen haben wir wieder Jan Burda gewinnen können und haben profitiert von seiner Erfahrung, seinem Know-How sowie seiner Geduld und Bereitschaft, auf die Vorstellungen der Autoren einzugehen. Große Geduld mit und Verständnis für uns haben unsere Lebensgefährtinnen mitbringen müssen: Jana (H. B.), Elena (P. B.), Magda (J. Z.) und Anna (J. B.). Ihnen sind wir tief verbunden und widmen ihnen dieses Buch. Wir danken auch unseren Kollegen, die das Manuskript gelesen und die Abbildungen kontrolliert und kommentiert und uns immer wieder auf neue Facharbeiten aufmerksam gemacht haben, namentlich PD Dr. Sabine Begall, Mgr. Pavel Duda, Yoshiyuki Henning, MSc., Dr. Andre Matena, Dr. Martina Konecˇná, Erich Pascal Malkemper, MSc., Dr. Marcus Schmitt, Dr. Franziska Trusch und Christiane Vole, MSc. Ein besonderes Dankeschön geht an den Verlag Eugen Ulmer, dass er uns das Schreiben dieses Buchs anvertraut und geduldig und verständnisvoll auf die Lieferung des Manuskripts gewartet hat. Das Buch hat sehr profitiert von der Sorgfalt und Erfahrung, die Frau Sabine Mann, M.A., Frau Dipl.-Biol. Ulrike Andres und Herr Jürgen Sprenzel der redaktionellen Bearbeitung und dem Herausgeben gewidmet haben.
1 Phylogenetische Stellung des Menschen
1.1 Primaten
1.1.1 Euarchontoglires
Der Mensch ist ein Primat. Die „Ordnung“ Primaten (Primates, Herrentiere) bildet zusammen mit Spitzhörnchen (Scandentia), Riesengleitern (Dermoptera), Hasenartigen (Lagomorpha) und Nagetieren (Rodentia) die evolutionär einheitliche, monophyletische Gruppe der Euarchontoglires. Wir schreiben „Ordnung“ absichtlich in Anführungszeichen, denn es gibt keine objektive wissenschaftliche Methode, um einen taxonomischen Rang festzulegen. Die Gliederung der Organismen in unterschiedliche systematische Einheiten (Taxa), wie z.B. Klasse und Ordnung, ist lediglich ein Hilfsmittel um die Übersicht (einigermaßen) zu wahren. Mehr dazu im Buch „Systematische Zoologie“ von Burda et al. (2008). Die genaueren Beziehungen zwischen den Primaten und anderen Gruppen sind nicht ganz klar (Abb. 1.1; Box 1.1).
Abb. 1.1: Kladogramm der Säugetiere. Blaue Linien kennzeichnen Gruppen, deren Monophylie nicht gesichert ist bzw. deren phylogenetische Beziehungen unsicher sind.
Box 1.1
Die nächsten Verwandten der Primaten
Dermoptera (Riesengleiter, Pelzflatterer), Masse: 1–1,8 kg. Herbivore Urwaldsäugetiere aus Südostasien, die an Spitzhörnchen mit großer Flughaut erinnern. Diese ist zwischen Hals, Vorder- und Hinterbeinen und Schwanz aufgespannt und ermöglicht Gleitflug. Charakteristisch sind auch kammartige untere Schneidezähne. Eine Familie: Cynocephalidae (Gleitflieger), traditionell zwei Arten, auf molekulartaxonomischer Basis bestimmt noch mehr.
Scandentia (Spitzhörnchen), Masse: 25–300 g. Eichhörnchenähnlich, verlängerte Schnauze, Ohrmuscheln vom Primatentyp. Insektenfressergebiss. Gehirn und Sehsinn weit entwickelt, geschlossene Orbitahöhle. Meist arborikol und tagesaktiv. Süd- und Südostasien. Zwei Familien: Tupaiidae (Tupaias), ca. 20 Arten, Ptilocercidae, traditionell eine Art.
Interessanterweise beschäftigt sich – auch wenn „unabsichtlich“ – der größte Teil der biomedizinischen Forschung außer mit dem Menschen selbst auch mit seiner nächsten Verwandtschaft (Makak, Kaninchen, Ratte, Maus, Meerschweinchen). Unter dem Gesichtspunkt der notwendigen Vergleichbarkeit von Mensch und Tier ist dies auch bestimmt sinnvoll; allerdings dürfen wir die Ergebnisse solcher Forschung nicht pauschal auf die gesamte Gruppe der Säugetiere übertragen.
1.1.2 Verbreitung
Wenn wir die Verbreitung des modernen Menschen, der die gesamte Erde einschließlich der Antarktis sowie Ozeaniens bevölkert und der sporadisch sogar das nahe Weltall und den Mond aufsucht (oder aufgesucht hat), außer Acht lassen, dann lässt sich zusammenfassen, dass die Primaten in den Tropen und Subtropen Afrikas, Madagaskars, Asiens und Südamerikas verbreitet sind (Abb. 1.2).
Abb. 1.2: Geografische Verbreitung (grün) der nichtmenschlichen Primaten.
1.1.3 Merkmale
Primaten sind eine ziemlich heterogene Gruppierung von Tieren mit unterschiedlichem Evolutionsniveau (Tab. 1.1 und 1.2). Sie wiegen zwischen 55 g (Zwergmaki, Microcebus rufus) und 200 kg (Gorilla), sie sind primär Baumbewohner (arborikol) und wenig spezialisierte Omnivoren. Oft machen, neben Pflanzen und Früchten, Insekten einen großen Anteil ihrer Nahrung aus; reine Fleischfresser gibt es unter Primaten nicht.
Primaten neigen zu vertikaler Körperstellung, wofür unter anderem die vorderen und hinteren Extremitäten unterschiedlich spezialisiert sind. Diese sind sehr beweglich (Rotation ist möglich), außerdem besitzen Primaten ein Schlüsselbein (Clavicula). Die Hände und Füße sind pentadaktyl (fünffingrig), die ersten Finger (Daumen und Großzehen) sind