Jede Rede hat ein Hauptziel, das als Handlung verstanden werden kann: Informieren, Unterhalten, Überzeugen, Auffordern usw. Die Rede ist weiter aufgeteilt in Teilhandlungen: Ankündigen, Behaupten, Begründen, Illustrieren, Zusammenfassen usw.
Typisch für die öffentliche Rede ist, dass die jeweiligen Handlungsformen von der Rednerin oder vom Redner bestimmt werden. Aber je dialogischer die Rede gehalten wird, desto eher können sich alle Gesprächspartner daran beteiligen. In einer abwechslungsreich gestalteten Schulstunde zum Beispiel erarbeiten die Schülerinnen und Schüler einleuchtende Beispiele. In der Präsentation eines neuen Produkts sind Fragen der Kundinnen oft informativer als die Behauptungen des Verkäufers. In einem Live-Streaming sind die Chat-Beiträge mindestens so wichtig wie die eigentliche Präsentation. Deshalb ist es sinnvoll, auch den Handlungsaspekt der öffentlichen Rede nicht einseitig aus dem Blickwinkel des Redners zu sehen. Die Vorstellung, dass Publikum und Organisatoren an der Ausrichtung der Rede mitbeteiligt sind, nimmt viel Gewicht von den Schultern der hauptverantwortlichen Person. Wenn Redner und Publikum auf Augenhöhe sind, sich unter dem Zeichen der Gleichberechtigung finden, ist die Gliederung in Teilhandlungen auch eine Gliederung in Rede und Gegenrede.
Planung gehört immer dazu
Viele Gespräche im Alltag entstehen spontan und laufen ohne eine geplante Struktur ab. Wenn es dabei drunter und drüber geht, liegt oft gerade darin ihr Reiz. Eine Rede für die Öffentlichkeit dagegen hat in der Regel eine längere Entstehungsgeschichte. Sie geschieht oft in Zusammenarbeit mit anderen, mit Rückgriff auf frühere Reden und Texte als Quellen. Im Prinzip aber handelt es sich um vorbereitete Reden – um Wortmeldungen, denen eine gewisse Zeit der Überlegung vorausgegangen ist.
Zur Erinnerung an Martin Luther King gehört die berühmte Rede, die er am 28. August 1963 am Ende des großen Marsches auf Washington vor dem Lincoln Memorial hielt. Im Film, der das dokumentiert, wirkt er vor der riesigen Menschenmenge wie in Trance. I have a dream, sagt er in der Mitte der Rede und hebt an zu der berühmten Passage, einer Vision von einem Amerika der Einheit und Gleichberechtigung. Aber dies ist weder eine spontane Eingebung noch eine einsame Tat. Hinter ihm auf dem Podium sitzt die Sängerin Mahalia Jackson. Er ist mitten in seinem vorbereiteten Text, als sie ihm zuruft: „Erzähl ihm vom Traum, Martin!“28
Da schiebt King sein Manuskript beiseite und spricht die unsterblichen Worte:
„Heute, meine Freunde, sage ich euch: Auch wenn wir uns den Schwierigkeiten des heutigen und morgigen Tags stellen, habe ich immer noch einen Traum. Es ist ein Traum, der tief im Amerikanischen Traum wurzelt. Ich träume davon, dass eines Tages diese Nation aufsteht und die wahre Bedeutung ihres Bekenntnisses erleben wird: ‚Wir erachten diese Wahrheiten als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich erschaffen worden sind.‘ “
Und dann erweitert er sein Bekenntnis mit drei Bildern, die diese Sehnsucht illustrieren:
„Ich träume davon, dass sich eines Tages, auf den roten Hügeln von Georgia die Söhne einstiger Sklaven und die Söhne einstiger Sklavenhalter zusammensetzen können am Tisch der Bruderschaft.
Ich träume davon, dass eines Tages sogar der Staat Mississippi, ein Staat, der in der Hitze des Unrechts schmort, in der Hitze der Unterdrückung schmort, sich wandelt zu einer Oase der Freiheit und Gerechtigkeit.
Ich träume davon, dass meine vier kleinen Kinder eines Tages in einer Nation leben, in der man sie nicht nach ihrer Hautfarbe beurteilt, sondern nach dem Gehalt ihres Charakters.“ 29
So spontan King diese unsterbliche Passage einbaute, so wenig improvisiert war sie. Derart wohlgesetzte Worte können nicht einer plötzlichen Eingebung entspringen. King konnte auf ein Repertoire zurückgreifen, das er im Lauf der Zeit aufgebaut hatte. Bei mehreren früheren Ansprachen hatte er ähnliche Passagen verwendet. Als Mahalia Jackson rief: „Erzähl ihm vom Traum“, meinte sie genau das. Vielleicht wäre er auch selbst darauf gekommen. Aber auf jeden Fall nahm er die Anregung bereitwillig auf. Eine Mischung zwischen vorformulierten Passagen und spontaner Kreativität machten die Rede zu einem authentischen Produkt.
»das Redeziel bestimmen
»das Zielpublikum kennen
»Hauptaussagen notieren
»den Aufbau der Rede skizzieren
»Notieren der Möglichkeiten, mit dem Publikum zu interagieren
Recherche ist die wichtigste Aufgabe
Reden entstehen geplant. Und eine gute Rede basiert nicht nur auf solchen einzelnen vorbereiteten Formulierungen, sondern auf intensiver Beschäftigung mit dem Stoff. Ebenso wie das Sammeln gehört auch das Verwerfen von Material dazu. Auch das ist essenziell. Es führt dazu, dass man mehr weiß, als man schließlich vor Publikum sagt, und das ist eine Grundlage für das sichere Reden.
Noch heute orientiert sich die Rhetorik an den Schritten, die im klassischen Altertum galten, an den so genannten Produktionsstadien. Man nannte meist fünf, und sie werden immer noch mit ihren lateinischen Namen bezeichnet:30
»Inventio (das Auffinden des Stoffs, der Informationen, die seine Botschaft erhellen und stützen)
»Dispositio (die Anordnung der einzelnen Aussagen so, dass die Rede einen überzeugenden Aufbau erhält)
»Elocutio (die sprachliche Gestaltung der Rede)
»Memoria (das gedankliche Durchgehen und Sich-Einprägen der Rede)
»Actio (der Auftritt, mit der sprecherischen und körpersprachlichen Präsentation der Rede)31
Vier dieser fünf Produktionsstadien betreffen die Planung und Vorbereitung. Dabei sticht die Inventio als inhaltliche Grundlage noch heute heraus, weil sie das garantiert, womit man als Vortragender am überzeugendsten auftritt: inhaltliche Kompetenz. Wir nennen es heute Recherche, und sie ist eine Schlüsselqualifikation in sehr vielen Berufen; wenn es darum geht, einen Text zu verfassen (oder eben auch eine gesprochene Rede), kommt man ohne sie nicht aus. Für die öffentliche Rede ist sie ein wichtiges Merkmal, das sie vom alltäglichen Gespräch unterscheidet. Unsicherheit über einen Sachverhalt gehört zur privaten Konversation. „Lass uns das mal nachschlagen/googeln/erfragen.“ ist eine gängige Aufforderung, mit der man gemeinsam Informationen ergänzt, um danach weiter diskutieren zu können.
Dass man vorbereitet vor ein Publikum tritt, entspricht auch den Erwartungen an eine Rednerin oder einen Redner: Als Einzelperson zu einer Gruppe zu sprechen, ist ein Privileg. Weil man etwas zu sagen hat, lohnt es sich für andere Menschen, zuzuhören und damit das eigene Wissen zu ergänzen oder in Frage zu stellen. Die Rednerin ist Expertin. Expertin zu sein, bedeutet aber in dem meisten Fällen nicht einfach, aus dem erworbenen Wissen zu schöpfen, sondern recherchieren zu können. Auf keinem Gebiet ist es ratsam, einen alten Vortrag aus der Schublade zu ziehen und ihn so zu halten, wie es vor ein paar Jahren, Monaten oder auch Tagen passend war. Man greift zwar auf Früheres zurück, reagiert aber auch auf Aktuelles. Das eine gibt Sicherheit, das andere ermöglicht den Kontakt mit dem Publikum.
Eine gute Vorbereitung birgt immer die Gefahr, dass man sich zu eng an einem Konzept orientiert. Die Rede kann in Sprache und Tempo zu starr wirken. Gute Vorbereitung kann aber auch als Chance gesehen werden, von ihr abzuweichen, so dass die Rede lebendig wirkt – dank spontaner Ergänzungen, Tempoveränderungen, Reaktionen auf Einwände. Je besser dabei die Vorbereitung, desto leichter ist es, den eingeschlagenen Weg zu verlassen und ihn bei Bedarf wieder aufzunehmen.
Die Rede als Produkt dieser Rahmenbedingungen