Deshalb umfasst der heutige praktische Rhetorikunterricht nur noch einen kleinen Teil des klassischen Lehrgebäudes. Das hat aber durchaus seinen Sinn, eben weil es moderne Fächer gibt, die sie entlasten, weil sie Inhalte erforschen, die früher zur Rhetorik gehörten.
»Linguistik
»Literaturwissenschaft
»Psychologie
»Jurisprudenz
»Theaterwissenschaft
»Medienwissenschaft
Dennoch ist das in diesem Buch verwendete Verständnis von Rhetorik – als Lehre vom Reden in der Öffentlichkeit – eine bewusste Einschränkung. Es beruht auf der Beobachtung des Besonderen am Reden zu einer Gruppe von Menschen im Vergleich zum Reden mit Menschen in einem informellen Rahmen.17
Dass diese Lehre trotz ihrer klaren Einschränkung immer noch Rhetorik genannt werden soll, hat zwei Gründe.18 Der eine liegt in der Tradition des Sprachgebrauchs: Im deutschen Sprachraum hat Rhetorik sich als Bezeichnung für alle Formen des praktischen Redetrainings eingebürgert. Unzählige Angebote führen den Begriff im Titel, auch wenn sie keinen Zusammenhang zur wissenschaftlichen Rhetorik erkennen lassen. Deshalb sollte ein Buch wie dieses, das den Bezug zur Wissenschaft beibehält, den Begriff nicht über Bord werfen.
Der zweite Grund hat mit der Perspektive der Rhetorik zu tun, die sich von derjenigen anderer Wissenschaften der Kommunikation unterscheidet. Auch wenn uns bewusst bleibt, dass das Publikum ebenso entscheidend ist wie die Rednerfigur, richtet sich die Botschaft der Rhetorik in erster Linie an die Rednerin bzw. den Redner. Auch wenn es eine Lehre des dialogischen, konstruktiven Redens ist, werden wir immer wieder auf die Rednerperspektive zurückkommen, weil es der Redner bzw. die Rednerin ist, an die sich die Ausbildung richtet.19
Die Zeit ist begrenzt
Im privaten Rahmen ergibt es sich meist von selbst, wie lang ein Gespräch dauert. Die öffentliche Rede dagegen ist von Zeitvorgaben geprägt. Unterrichtsstunden von der Grundschule bis zur Universität haben ihren festen Zeitrahmen; bei Radio- oder Fernsehsendungen ist die Dauer das Erste, was vorbestimmt ist. Und sogar bei freien Formen, wie sie Podcasts und Video-Blogs ermöglichen, ist eine Beschränkung der Länge meist selbstverständlich. Die zeitliche Begrenzung führt dazu, dass sich viele Rednerinnen und Redner verhalten, als ob sie unter Zeitdruck stünden. Sie nehmen ohne Not eine gehetzte Sprech- und Präsentationsweise an, wie wenn sie Angst hätten, gleich unterbrochen zu werden.
Da ist der Mediziner, der zum Thema „Psychiatrische Störungen“ reden soll. Die Studierenden sind schon da, sie warten in einem großen Hörsaal mit nach hinten ansteigenden Sitzreihen. Die ersten Sitzreihen haben sie typischerweise leergelassen. Der Dozent ist noch nicht zu sehen. Sie blicken auf eine weiße Leinwand, die hinter dem Lehrerpult aufgespannt ist. Einige Minuten nach der vereinbarten Zeit eilt der Dozent in weit ausholenden Schritten durch den Raum auf das Pult zu.20 Als er die Mitte des Raums erreicht, spricht er, ohne anzuhalten, den ersten Satz: „So!“
Da er noch mitten im Lauf ist, sagt er es geradeaus, mit Blick in Richtung Seitenwand. Beim nächsten Schritt sagt er: „Etwas zu spät!“ Bei „spät“ wendet er den Kopf kurz nach links, wo die Studierenden sitzen, allerdings ohne abzubremsen. Er braucht drei weitere Schritte, um sich von einem Tablar eine Fernbedienung zu greifen. Mit dieser dreht er sich um, sagt „äh“ und macht drei kurze Schritte zurück. Dabei studiert er kurz die Fernbedienung und tippt mit dem Finger darauf herum (was auf der Leinwand keinen Effekt erzeugt). Als er hinter dem Pult angekommen ist, sagt er, noch immer zur Fernbedienung: „Schönen guten Tag!“
Erst bei „Tag” blickt der Dozent ins Publikum. Danach wird er sich vorstellen, und dann wird die Vorlesung wirklich beginnen. Er wird zwar versuchen, seine Zuhörer mit seinem Thema zu fesseln. Mit dieser kurzen Einleitung hat er aber weder für sie noch für sich selbst eine gute Vorlage geschaffen. Denn in diesen ersten zehn Sekunden hat er so viele Dinge getan, dass er sich und die anderen überfordert:
»Er betritt den Raum.
»Er durchschreitet den Raum.
»Er nimmt kurz Blickkontakt mit den Zuhörerinnen auf.
»Er ergreift die Fernbedienung (mit einem weiteren Blick ins Publikum).
»Er blickt auf die Fernbedienung, bedient sie.
»Jetzt nimmt er erst seine endgültige Redeposition ein.
»Und er sagt drei Dinge:
»Er spricht die Verspätung an („etwas zu spät“) – eventuell in der Meinung, dies werde als Entschuldigung verstanden.
»Er überbrückt eine Pause (Äh).
»Er sagt guten Tag.21
All dies ist in einer schwungvollen Bewegung von der Tür bis zum Dozentenpult erfolgt und hat sieben Sekunden gedauert. Für die Veranstaltung stehen 45 Minuten zur Verfügung. Es gibt keinen Grund zur Eile. Ein derart gehetzter Anfang ist nicht notwendig, und dennoch ist er typisch für diese Art Vortrag, gerade an Hochschulen und anderen Lehranstalten: Die Dozentinnen und Dozenten lassen sich keine Zeit. Sie spurten in den Hörsaal, fangen an, bevor sie richtig angekommen sind, und tun immer mehrere Dinge gleichzeitig. Sie überfordern damit sich und ihr Publikum. Und verpassen die besten Möglichkeiten, mit den Zuhörern in Kontakt zu kommen.
Der Grund ist die scheinbar harmlose Rahmenbedingung, ohne die öffentliches Reden nicht auskommt: die Zeitabsprache. Sie führt in vielen Fällen zu einer unnötigen Hast. „Fasse dich kurz!“ ist eine Maxime, die sich durch sehr viele Bereiche des Lebens zieht, und viele Rednerinnen und Redner orientieren sich sogar dann daran, wenn ihnen genügend Zeit gegeben ist.
»Zeitmanagement durch den Redner (im Gegensatz zum gemeinsamen Zeitmanagement im privaten Dialog)
»Tendenz zu vorzeitigem Beginn
»Tendenz zu hoher Sprechgeschwindigkeit
»gleichzeitiges Ausführen verschiedener Handlungen (z.B. Sprechen und Bedienung technischer Geräte
Auffällig ist dabei die Tendenz, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun. Wer sich dem Publikum vorstellen will und gleichzeitig seine Brille zurechtrückt, in sein Manuskript schaut und dabei sagt: „Mein Name ist …“, verpasst die Chance, Kontakt aufzunehmen, vom Publikum als Gesprächspartner wahrgenommen zu werden – und auch das Publikum selbst wahrzunehmen.
Reden heißt Zeit haben. Nicht dass man sich auf eine bestimmte Dauer geeinigt hat, sollte die Leitlinie sein, sondern dass man frei ist, sie mit so viel oder so wenig Dingen zu füllen, wie es sinnvoll ist – sinnvoll für die Konzentration des Redners, für die Aufnahmefähigkeit des Publikums und für ihre Interaktion.
Kultur und Gesellschaft reden mit
Wer zu einer öffentlichen Rede ansetzt, übernimmt eine Rolle, die zu einer gewissen Tradition gehört und entsprechende Erwartungen weckt. Ob diese erfüllt oder missachtet werden sollen, ist eine Sache des Abwägens von Fall zu Fall.
Antoine de Saint-Exupéry berichtet in seiner Geschichte vom Kleinen Prinzen über die Entdeckung des Planeten, von dem er stammt. Ein türkischer Astronom habe ihn als erster erspäht.