5 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom in traditioneller Kleidung.
Es dauerte elf Jahre, bis die wissenschaftliche Community den Mann ernst nahm. Dazwischen lagen die Gesellschaftsreformen unter Atatürk, und als der Astronom seinen Vortrag wiederholte, trug er einen Anzug nach westlicher Mode. „Und diesmal gaben sie ihm alle recht“22, stellt der Erzähler fest.
6 | Antoine de Saint-Exupéry: der Astronom elf Jahre später.
Die Geschichte erinnert daran, dass Verhaltensnormen sich von Kultur zu Kultur unterscheiden – und dass diese auch für Voraussetzungen des öffentlichen Redens, seine Organisation und seine Funktion gilt. Die Vertreter einer vermeintlich überlegenen Kultur verlangten die Unterwerfung unter ihre Normen, um den Redner überhaupt als solchen anzuerkennen.
Zudem ist das Reden in der Öffentlichkeit seit jeher dazu da, traditionelle kulturelle Güter zu zelebrieren. Reden werden gehalten, um Jubilare zu ehren, um Begräbnissen einen würdigen Rahmen zu geben oder auch um an einem politischen Feiertag ein Zeichen zu setzen. Nicht was gesagt wird, sondern dass etwas gesagt wird, ist wichtig. Ohne gesprochene Formeln bei Gründungsakten, Taufen oder Ernennungen könnte die betreffende Handlung gar nicht durchgeführt werden. Aber in vielen Fällen werden Äußerlichkeiten, Form und Gehabe, wichtiger genommen als der Inhalt. Dies ist in der öffentlichen Rede ständig präsent. Umso wichtiger ist es für den Einzelnen oder die Einzelne, sich vom sozialen Druck, der daraus entsteht, so weit möglich zu emanzipieren und nur diejenigen Rahmenbedingungen zu akzeptieren, ohne man nicht auskommt. Es geht also darum, sich mit den Erwartungen der Umgebung so weit zu arrangieren, dass die Verständigung klappt, aber die eigene Selbstachtung gewahrt bleibt.
Eine männliche Tradition
In diesen Komplex gehört auch, dass die gängigsten Ideale des öffentlichen Redens Ideale männlichen Verhaltens sind. Das Reden in der Öffentlichkeit galt seit jeher generell als Männerdomäne. Die antike Rhetorik demonstriert dies sehr gut. Die ideale Rednerpersönlichkeit war der vir bonus, der rechtschaffene Mann, der als Jurist, Politiker oder Künstler in der Öffentlichkeit stand. Frauen, die sich in der Antike poetisch oder politisch im männlich definierten öffentlichen Raum äußerten, wurden von männlicher wie weiblicher Seite gleichermaßen kritisch beäugt und ihr Einfluss und Respekt wurden „in der Regel unterminiert.“23 Noch im 20. Jahrhundert wurde der erfolgreiche Redner mit dem triumphierenden Krieger gleichgesetzt. Konrad Lienert, Verfasser einer „Einführung in die Redekunst“, die es vor gut hundert Jahren zu sieben Auflagen brachte, setzte dem Buch mit dem Titel Der moderne Redner noch ohne Bedenken die folgenden Zeilen voran:
Das war ein Mann! Sein Schwert hat er geschwungen, Das Schwert des Wortes, männlich, kühn und scharf, Und Jauchzen schallte, wenn dies Schwert erklungen, Wenn es zu Boden jeden Gegner warf.24
Da ist alles drin, was zur Verherrlichung der Macht des Wortes gehört, und nicht nur der Führer des Schwertes ist ein Mann, sondern auch das Schwert selbst, das jeden Gegner niederschlägt, ist männlich. Die kriegerische Vorstellung, dass öffentliches Reden ein Kampf sei, in dem das stärkere Argument obsiegt, passt zu einer Welt, in der die Männer für Sieg und Niederlage zuständig sind, die Frauen dagegen für den Ausgleich und das Zusammenkehren der Scherben.
Nun hat sich zur Zeit des besagten türkischen Astronomen in Europa einiges getan. Die Frauenbewegung kämpfte für die Gleichberechtigung, Politikerinnen wie Rosa Luxemburg und Clara Zetkin verschafften sich damals trotz Anfeindungen Gehör. Und es ist zwar ein Topos der praktischen Rhetorik-Literatur, dass „Frauen den Beziehungsaspekt in ihrer Rede in den Vordergrund stellen und einen partnerschaftlichen, kooperativen und integrativen Redestil pflegen“, Männer dagegen angeblich einen Stil der Auseinandersetzung und der Sachlichkeit bevorzugen.25 Es existieren moderne Rhetorikratgeber für Frauen, die ein Redeverständnis vertreten, „das nicht auf der Unterscheidung von Sieg und Niederlage basiert, sondern das Raum für ein Nebeneinander von souveränen Subjekten lässt.“26 Doch dies hat bisher in der öffentlichen Rede weder zu einem erkennbaren weiblichen Stil noch zu einem Umdenken männlicher Redner geführt. Und viele Normen sind männliche Normen geblieben.
Für die Ziele dieses Buchs ist es zunächst wichtig, einfach festzuhalten, dass zu den traditionellen Rahmenbedingungen des öffentlichen Redens Faktoren gehören, die sich aus institutioneller, politischer und geschlechtsbezogener Macht ergeben. Der rednerische Auftritt in einem Rahmen über Jahrhunderte entwickelter Machtinstrumente ist nicht möglich, ohne dass eine Rednerin auf diese zurückgreift. Aber es ist in vielen Fällen möglich, auf Kommunikationsweisen zu verzichten, die nur dem Machterhalt und nicht der Sache dienen, und alternative Formen der Auseinandersetzung zu finden.27 Hilfreich ist es dabei, die Funktion der einzelnen Rede nicht zu überschätzen, sondern sie als einen von vielen Kommunikationsprozessen in einem größeren Ganzen zu sehen. Nicht nur der einzelne Auftritt ist entscheidend, sondern die Gesamtheit der Arbeitsschritte, auch die, die ihm vorangegangen sind und folgen werden.
[1]Anwendung von Praktiken der eigenen Gruppe/Kultur auf andere
[2]Verwechslung rednerischer Fähigkeiten mit persönlichen Qualitäten
[3]Betonung ritueller Funktionen von Reden
[4]Vorgabe „männlich“ besetzter Rede-Ideale
Eine Rede hat ein Handlungsziel
Ein Gespräch im Alltag dient oft verschiedenen Zwecken. Das Ziel ist Verhandlungssache, und manchmal einigt man sich erst in seinem Verlauf, worauf man hinauswill – z.B. eine Beziehung zu klären oder einen Beschluss zu fassen. Zur öffentlichen Rede hingegen gehört, dass sie einem eindeutigen Ziel untergeordnet ist. Es ist von vornherein festgelegt, was die Rednerin oder der Redner tun wird: zum Beispiel neutral informieren (wie bei einer Nachrichtensendung oder einer Durchsage am Bahnhof), zu praktischer Tätigkeit anleiten (wie bei einer sportlichen Trainingseinheit oder einer naturwissenschaftlichen Übung) oder Texte auslegen (wie im juristischen Vortrag oder in der Predigt). Die Redetypen sind verschieden; das Ziel ist aber immer klar definiert:
»Unterhaltung
»Aufklärung
»Anleitung
»Befehl
»Anklage
»Verteidigung
»Verkündigung
»Begrüßung
»Nachruf usw.
Dass die Rede jeweils einem Hauptziel verpflichtet ist, ist die Voraussetzung dafür, dass sich Redner und Publikum zu einer gemeinsamen Veranstaltung finden. Im Verlauf der Rede sind zwar auch Nebenziele möglich. So kann ein informativer Vortrag über Klimaveränderung durchaus auch werbenden Charakter haben, eine unterhaltende Erzählung kann auch eine weltanschauliche Botschaft enthalten usw. Aber sie ordnen sich dem Hauptziel unter. Dennoch ist es für die praktische Rhetorik wichtig, auch eine kleinteiligere Handlungsstruktur zu erkennen, die die Rede in einzelne Schritte aufteilt. Ein längerer Vortrag zerfällt zum Beispiel in Thesen und Argumente, denen Hintergrundinformationen vorausgeschickt werden. Zwischendurch werden Hauptaussagen mit Beispielen illustriert, Fragen werden gestellt, Zusammenfassungen formuliert usw. Wir werden sehen, dass es für die attraktive Gestaltung einer Rede wichtig ist, dass man sich dieser Handlungsformen bewusst ist, dass man weiß: Jetzt stelle ich eine These auf – jetzt erzähle ich eine kurze Geschichte – jetzt unterbreche ich die Darstellung mit einer Frage usw.