Sterbehilfe. Katharina Woellert. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Katharina Woellert
Издательство: Bookwire
Серия: utb Profile
Жанр произведения: Медицина
Год издания: 0
isbn: 9783846330067
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aber von den Interessen der Gemeinschaft, die sich, fast als Akt der Selbstverteidigung, von den „Ballastexistenzen“, die die Wohlfahrt des Staates gefährden würden, befreien dürfe (Binding / Hoche 1920). Diese Vorstellungen konnten nach 1933 im nationalsozialistischen Deutschland zur Leitlinie im Umgang mit Behinderten und chronisch Kranken werden, bis sie ab 1939 auch in der Praxis umgesetzt wurden. Rund 250.000 Kranke und behinderte Menschen wurden auf dieser Grundlage von Ärzten und Krankenpflegepersonal unter dem Signum „Gnadentod“ getötet.

      Es ist nicht überraschend, dass diese schrecklichen Ereignisse sich noch auf die Diskussion zur Sterbehilfe heute auswirken. Manche Argumente aus den 1920er und 1930er Jahren, wie z. B. die Kostenfrage, werden auch heute wieder in renommierten medizinischen Fachzeitschriften erörtert (Emanuel/Battin 1998), wenngleich die Bundesärztekammer strikt ökonomische Überlegungen im Zusammenhang mit Sterbehilfe ablehnt. Andere Probleme, wie z.B. die Auswirkungen der Intensivmedizin auf Sterbeprozess und Todeseintritt, sind neueren Datums. Auch die Suche nach Möglichkeiten, ein würdevolles und selbstbestimmtes Sterben zu ermöglichen und dafür angemessene Formen zu finden, wie sie in der Hospizarbeit und der Palliativmedizin gegeben sind, zeigen deutliche Unterschiede zur damaligen Situation und verweisen auf die humane Seite ärztlicher und pflegerischer Sterbebegleitung (Schmiedebach/Woellert 2006).

      Literatur

      Benzenhöfer 1999; Frewer 2002

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      Begriffsver wendung

      Die Diskussion um die Behandlungsentscheidungen am Lebensende ist durch verschiedene medizinische, pflegerische, juristische, ethische und theologische Argumente geprägt. Deshalb ist es sinnvoll, vor dem Einstieg in die eigentliche Diskussion deutlich zu machen, welche Begriffe in der Debatte eine Rolle spielen und wie diese definiert sind. Um die Streitpunkte in der deutschen Auseinandersetzung nachvollziehen zu können, ist es ebenso wichtig, die Rechtslage zum Thema Sterbehilfe zu kennen. Beides soll dieses Kapitel leisten.

      Die gängige Begriffsverwendung und deren Problematik

      Sterbehilfe oder Sterbebegleitung. Zunächst ist zu klären, wie sich die Begriffe Sterbehilfe und Sterbebegleitung zueinander verhalten. Sterbehilfe wird vor allem im Zusammenhang mit den Adjektiven passiv, indirekt und aktiv gebraucht; damit kann man die Art der medizinischen Intervention rechtlich und definitorisch einordnen. Der Ausdruck Sterbebegleitung ist weiter gefasst: Er beschreibt auch palliativmedizinische und -pflegerische Maßnahmen und somit die Begleitung des Patienten in seiner letzten Lebensphase.

      Der Terminus Sterbehilfe wird vielfach kritisch beurteilt, auch wenn er im Recht nach wie vor Anwendung findet. Dabei gelten vor allem zwei Aspekte als problematisch: erstens die begriffliche Nähe zum Terminus „verhelfen“. Er drückt deutlich aus, dass auch andere Personen am Entscheidungs- und Umsetzungsprozess beteiligt sind. Statt sich am Gesundheitszustand des Patienten zu orientieren, wird dadurch die Handlung von Medizinern bzw. Pflegepersonen in den Mittelpunkt gestellt.

      Zweitens ist auch die Nähe zu dem Begriff „Hilfe“ problematisch (Nationaler Ethikrat 2006, 26). Helfen ist ein positiv besetzter Vorgang. Zumindest bei der allgemein kritisch beurteilten und strafbaren aktiven Sterbehilfe steht diese Bezeichnung somit im Gegensatz zum Wortsinn. Die Bundesärztekammer begegnete dieser begrifflichen Schwäche dadurch, dass sie in ihren Richtlinien zum Thema seit 1993 den Ausdruck Sterbebegleitung statt Sterbehilfe im Titel führt (Bundesärztekammer 1993).

      Euthanasie. Der Begriff Euthanasie stammt wie gesagt aus dem Griechischen und bedeutet „guter Tod“ (siehe Kapitel 1); der Wortsinn hat also eine positive Färbung. Im deutschen Sprachkontext ist der Begriff dagegen aufgrund seiner Verwendung in der Zeit des Nationalsozialismus größtenteils eher negativ belegt (Benzenhöfer 1999, 109–129).

      Folglich unterscheidet sich die deutsche Diskussion deutlich von der beispielsweise im angelsächsischen Raum geführten, die weiterhin auf den Ausdruck Euthanasia zurückgreift (Sohn / Zenz 2001). In Deutschland bevorzugt man dagegen in der Regel die Begriffe Sterbehilfe oder Sterbebegleitung (Nationaler Ethikrat 2006, 26); nur vereinzelt finden sich in der wissenschaftlichen Diskussion die Bezeichnungen aktive und passive Euthanasie, so beispielsweise bei Kodalle 2004.

      Passive, indirekte und aktive Sterbehilfe. In der aktuellen Debatte haben sich mehrere Perspektiven mit jeweils eigenen Begrifflichkeiten durchgesetzt. Auf einer ersten, der Behandlungsebene, wird zwischen aktiver, indirekter und passiver Sterbehilfe unterschieden (Wiesing/Ach 2000, 195–197).

      Definition

      Passive Sterbehilfe: das Einstellen oder das Nichtergreifen von lebenserhaltenden medizinischen Maßnahmen bei Schwerkranken oder Sterbenden (z. B. Verzicht auf Wiederbelebung); das Sterben wird zugelassen.

      Definition

      Indirekte Sterbehilfe: Maßnahmen bei Schwerkranken oder Sterbenden, die Leid mindern sollen und bei denen als unbeabsichtigte Nebenwirkung der Eintritt des Todes beschleunigt wird (z. B. der Einsatz hoch dosierter Schmerzmittel). Behandlungsziel ist das Lindern von Leid.

      Definition

      Aktive Sterbehilfe: medizinische Maßnahmen bei Schwerkranken oder Sterbenden, die den Tod vorzeitig herbeiführen sollen (z. B. das Verabreichen von Gift). Ziel ist die Lebensbeendigung.

      Vorrangiges Unterscheidungskriterium ist also das Behandlungsziel. Bei der passiven Sterbehilfe besteht dieses in der Beschränkung auf eine Basisversorgung und somit im Verzicht auf intensivmedizinische Maximalbehandlung – lebenserhaltende Maßnahmen werden entweder eingestellt oder aber gar nicht erst ergriffen, also etwa: keine künstliche Ernährung, Beatmung, Dialyse, Medikamentengabe, Reanimation und Ähnliches. – Beim Abschalten eines Beatmungsgerätes vollzieht der Arzt zwar einen aktiven Eingriff, er überlässt den Patienten damit aber wieder dem ursprünglich ablaufenden Sterbeprozess, der durch die intensivmedizinische Behandlung unterbrochen worden war. Damit wird das Sterben zugelassen, weswegen das Abschalten eines Atemgerätes trotz der aktiven Handlung ebenfalls der passiven Sterbehilfe zugeordnet wird (Birnbacher 1995; Gesang 2001).

      Bei der indirekten Sterbehilfe besteht das Behandlungsziel über eine Basisversorgung und den Verzicht auf Intensivmedizin hinaus darin, dem Schwerkranken oder Sterbenden sein Dasein weitestmöglich zu erleichtern. So können beispielsweise starke Schmerzen, Atemnot oder Angstzustände mit hoch dosierten Medikamenten behandelt werden, wobei in Kauf genommen wird, dass sich die voraussichtliche Lebenserwartung unter Umständen als unbeabsichtigte Folge von Nebenwirkungen verringert.

      Die aktive Sterbehilfe besteht in der Durchführung lebensverkürzender Maßnahmen, beispielsweise in der Verabreichung von Gift. Das Behandlungsziel besteht hierbei in einer Beschleunigung des Sterbens; der Tod tritt vorzeitig ein.

      Die rechtlich und berufsethisch getroffene Unterscheidung in aktive und passive Sterbehilfe ist allerdings umstritten. Mit dem Hinweis auf die Umstände, dass auch das Nicht-Handeln bei einem lebensbedrohlich erkrankten Patienten eine aktive Entscheidung des Arztes voraussetze und dass beispielsweise das Abschalten eines Beatmungsgerätes eine aktive Handlung sei, wird die Unterscheidbarkeit der beiden Formen angezweifelt, so beispielsweise von Eibach 2000.

      Untersuchungen zeigen, dass über die richtige Verwendung der Begriffe passive, indirekte und aktive Sterbehilfe selbst unter speziell geschulten Ärzten mitunter Unsicherheit herrscht. So schätzten in einer Befragung von in der Palliativmedizin fortgebildeten Ärzten etwa die Hälfte das Abschalten einer Beatmungsmaschine falsch als aktive Sterbehilfe ein (Weber et al. 2001). Es stellt sich die Frage, ob solche Fehleinschätzungen neben fehlender Aufklärung und begrifflicher Unschärfe nicht noch andere Gründe haben. Offenbar fällt es vielen Menschen schwer, das Sterbenlassen mit all seinen Konsequenzen zu akzeptieren.

      Strittig ist auch, ob künstliche Ernährung und Flüssigkeitszufuhr im Rahmen der passiven Sterbehilfe unterlassen werden dürfen. Laut Bundesärztekammer muss die Basisbetreuung in jedem Fall gewährleistet sein, die unter anderem auch das Stillen von Hunger und Durst umfasse. Viele Sterbende haben aber kein Hunger- und Durstempfinden mehr, ja oftmals ist es ein Zeichen für den fortschreitenden Sterbeprozess, dass Flüssigkeit und