In alltäglichen Zusammenhängen wird der Todesbegriff noch mit ganz anderen Inhalten gefüllt; es kommt zu einer zeitlichen Entkoppelung von physischem und sozialem Tod (Roelcke 2001). Letzterer bezeichnet beispielsweise die Stellung, die ein Mensch als beruflicher oder gesellschaftlicher Funktionsträger, als Familienvater oder als Partner angesichts seines bevorstehenden Todes von seiner Umwelt zugeschrieben bekommt. In übertragener Bedeutung gilt als sozialer Tod auch, wenn ein Mensch aufgrund von Alter, Krankheit oder unrühmlichen Verhaltens seine soziale Stellung einbüßt. In dieser Entkopplung spiegeln sich soziokulturelle Verarbeitungsprozesse wider, im Zuge derer die Lücke, die ein physische Tod oder eine veränderte gesellschaftliche Position bedeuten, gefüllt wird.
Auch Sterben ist nicht so eindeutig zu erfassen, wie es auf den ersten Blick erscheint. Sterben ist ein Prozess, dessen Anfang und Ende medizinisch nicht eindeutig zu bestimmen sind. Deswegen ist es nicht in einem klar umgrenzten Zeitraum zu verorten. Niemand kann mit absoluter Sicherheit sagen, wann bei einer lebensbedrohenden Krankheit der Tod eintritt. Und auch die scheinbar so konkrete Definition des Hirntodes stimmt nicht mit der allgemeinen Wahrnehmung des Sterbens überein (Holthaus 2000). Das Prozesshafte des Sterbens wird besonders an den umgangssprachlichen Bezeichnungen dafür deutlich: Wir sprechen vom „Heimkehren zu Gott“ und davon, dass jemand „von uns geht“ (Fuchs 1969). Sterben bedeutet also Bewegung und Veränderung.
Kernaussage
Tod und Sterben lassen eine allgemein akzeptierte definitorische Eindeutigkeit vermissen. Die Interpretation beider Begriffe geschieht immer aus dem jeweiligen Kontext heraus. Das medizinische Verständnis kann sich somit deutlich vom soziokulturellen unterscheiden.
Weder der Beginn des Sterbens noch der genaue Eintritt des Todes lassen sich also eindeutig bestimmen. Diese Unbestimmtheit steht z. B. im Gegensatz zur gängigen Rechtslage, die vorsieht, dass Sterbehilfe nur dann zur Anwendung gelangen dürfe, wenn der Sterbeprozess unmittelbar bevorsteht oder bereits eingesetzt hat, als ob also bestimmt werden könnte, wann genau das Sterben beginnt (siehe Kapitel 2).
Durch die Fortschritte der Medizin in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wird diese Diskrepanz noch verschärft. Mittels Reanimation und Intensivmedizin kann der Zeitpunkt des Eintritts des Todes sehr viel länger herausgezögert werden. So stellt sich heute oftmals die Frage, ob es nicht richtig sei, je nach Einzelfall den Tod zuzulassen, indem auf bestimmte medizinische Maßnahmen verzichtet wird.
Das Sterben wird heute in hohem Maße medizinisch überwacht. Orte des Sterbens sind in Deutschland gegenwärtig mit etwa 90 % vor allem Krankenhäuser sowie Alten- und Pflegeheime; die häufigsten Todesursachen sind Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Krebsleiden (Nationaler Ethikrat 2006). Sterben findet also in erster Linie in Institutionen statt, die ihren eigenen Strukturen und Interessen entsprechend mit dem Sterben umgehen, und nicht mehr zu Hause im Kreis von Angehörigen und Freunden. Das hat zur Folge, dass viele Menschen mit Hinblick auf ihr Lebensende besonders die Fremdbestimmtheit und damit verbunden soziale Isolation fürchten.
Diese Gegebenheiten haben auch zu einer Veränderung der überlieferten Sterbe- und Trauerkultur beigetragen. Für privates Miteinander, den eigenen Lebensrhythmus, für Abschiedszeremonien und Aufbahrungskultur bleibt in der institutionellen Umgebung häufig nur wenig Raum (Oduncu 2007). Begräbnisrituale, Sterbeanzeigen, Bestattungsformen, „Leichenschmaus“, Kondolenzbekundungen u. Ä. folgen zwar nach wie vor traditionellen Vorbildern, an denen man sich gleichwohl in unserer westlichen Kultur nicht mehr verbindlich orientieren muss; Wertepluralismus und Säkularisierung bieten einerseits eine Fülle neuer Handlungsoptionen, lösen andererseits aber den zuvor sehr viel enger gefassten Orientierungsrahmen, bestimmt von traditionellen kulturellen und sittlichen Mustern, auf.
Zu den Vorstellungen von Sterben und Tod hat uns die Geschichte viele Zeugnisse überliefert. Die Idee des „guten Todes“ („eu“ = gut, „thanatos“ = Tod – Euthanasie) bezeichnete in der griechischen und römischen Antike einen würdevollen, schmerzfreien und ehrenhaften Tod nach einem vollendeten Leben. Anders als in der Antike war im christlichen Mittelalter der „gute Tod“ vor allem von dem Wunsch nach einem auf das Jenseits vorbereitenden Sterben bestimmt: Das Leben war so zu gestalten, dass es nach Eintritt des Todes der Aufnahme in das christliche Himmelreich diente. Diese „Lebenskunst“ (Ars Vivendi) wurde durch Anweisungen darüber ergänzt, wie das Sterben richtig zu durchleiden und zu begleiten sei (Ars Moriendi). Der Tod war damit immerwährend präsenter Bestandteil des Lebens; Schmerz und Leid galten als gottgewollte Prüfungen (Benzenhöfer 1999; Frewer 2002; Oduncu 2007).
Kernaussage
Der Begriff Euthanasie bedeutet ursprünglich „guter Tod“.
Heutzutage gibt es v. a. vielfach Wünsche und Vorstellungen zur Gestaltung des Sterbens, allen voran den Wunsch nach einem schmerzfreien und würdevollen Tod, der nicht durch das intensivmedizinische Instrumentarium bestimmt ist. Auch Palliativmedizin, die Schmerz und Leid zu lindern sucht, Hospize und integrierte Sterbebegleitung sind gewissermaßen moderne Formen einer Sterbekultur. Beistand im Sterben leisten auch die so genannten Sterbeammen. Wo die Trauerbegleitung zuvor Angehörigen und Seelsorgern vorbehalten war, schafft die Gemengelage von Individualismus, Autonomiebedürfnis, Wertevielfalt und Verlust traditioneller Normen Raum für neue professionelle und ehrenamtliche Betreuungsangebote im Sterbe-, Abschieds- und Trauerprozess.
Kernaussage
Der lateinische Ausdruck „ars moriendi“ bedeutet „die Kunst zu sterben“. Er stammt aus dem christlichen Mittelalter und beschrieb jenes Verhalten, welches zu einem gelingenden, „guten Tod“ beitragen sollte. Heute finden sich andere Beispiele für eine bewusste, fürsorgliche und an den individuellen Bedürfnissen des Betroffenen ausgerichtete Sterbekultur.
Seit jeher war der Arzt über seinen Heilauftrag hinaus mit dem sterbenden Patienten und mit dem tödlichen Ausgang einer Krankheit konfrontiert. Eine sehr einschneidende Veränderung im Umgang mit Sterbenden trat mit dem Übergang von der griechisch-römischen Antike zum christlichen Mittelalter ein. Der antike Arzt war im Bewusstsein der Grenzen seiner Heilkunst nicht verpflichtet, einem Sterbenden beizustehen; er konnte sich sogar von diesem zurückziehen. Im Mittelalter hingegen, als die christliche Pflicht zur Barmherzigkeit (misericordia) und Nächstenliebe (caritas) auch das ärztliche Verhalten bestimmte, kam dem Arzt die Aufgabe zu, sich dem Sterbenden zuzuwenden, ihn zumindest zu trösten oder gar die heiligen Sakramente zu spenden (Frewer 2002).
Bis ins 19. Jahrhundert hinein begründeten vorrangig religiöse Überzeugungen und kulturelle Muster die moralischen Leitlinien für das ärztliche Handeln. Noch 1834 wird in einem medizinischen Wörterbuch bei der Erörterung des Begriffs Euthanasie festgehalten, dass der Arzt unter keinen Umständen das Leben verkürzen dürfe, ja dass sogar lindernde Medikamente abzusetzen seien, wenn sie zu einer Lebensverkürzung beitragen würden (Schmiedebach 1998).
Mit dem Erstarken der naturwissenschaftlichen und säkularen Perspektive innerhalb der Medizin änderte sich jedoch auch der ärztliche Umgang mit Sterbenden; Trost und Barmherzigkeit waren schwer mit einem naturwissenschaftlichen ärztlichen Selbstverständnis zu vereinbaren. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts sah man überdies das handlungsleitende Wohl zunehmend nicht nur beim Individuum, sondern auch bei der Gemeinschaft; Sterben und Tod eines Menschen wurden nun auch hinsichtlich möglicher Auswirkungen für die Gemeinschaft betrachtet. Der Wert eines Menschen, wie immer auch er bestimmt wird, bestimmte mehr und mehr das Denken auch in Biologie und Medizin – die Idee vom „Ausmerzen Schwacher“ zum Wohle aller wurde damals erstmals deutlich formuliert (Frewer 2002).
In Deutschland gewannen die Vorstellungen zur Vernichtung so genannten lebensunwerten Lebens nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg in der Schrift des Juristen Karl Binding und des Psychiaters Alfred Hoche aus dem Jahr 1920 eine konkrete Gestalt. Geprägt von der Krisenhaftigkeit der Nachkriegsjahre erörterten sie unter rechtlichen und medizinischen Aspekten die Freigabe der Tötung „Minderwertiger“ als einen Akt der Vernunft. Sie gingen