War da nicht ein leises Wimmern? Es hörte sich nicht wie Wildschwein an. Zielsicher lief sie los und schlängelte sich mit erhobenen Händen durch die Hecken; es ging leichter als gedacht.
Kurz darauf stand sie vor einer lang gestreckten Lichtung mit weichem Bärenfellgras, Wiesenblumen und einem Bach, der sich um große Steine wand und voll schillernd bunter Kiesel war. Sein Plätschern hatte etwas Besonderes, fand Viviane, es hörte sich fröhlich an, vergnügt. Auf der anderen Seite wiegte sich ein junger Birkenhain im Wind, seine Blätter raschelten leise und schimmerten grün-golden in der Sonne; sie hatten etwas Beschauliches an sich, etwas Ruhiges, Friedliches.
Hier war ein Ort, wo Feen lebten, mit Sonnenstrahlen um die Wette flogen, auf Flusssteinen tanzten, in Blütenkelchen ruhten und nachts im Mondlicht badeten. Verträumt steckte sich Viviane eine Handvoll Gänseblümchen in den Mund und sah sie vor sich, die Feen, wie sie durch die Lüfte schwebten auf zarten Flügeln mit seidigem Schimmer in wundervoller Farbenpracht. Fröhlich flatterten sie von Blüte zu Blüte, tranken Nektar und …
„Ist das wahnsinnige Vieh weg?“, blökte ein Schaf und rupfte an einem azurblauen Vergissmeinnicht, auf dem sich gerade eine Fee mit zitronengelben Flügeln sonnte.
Viviane zuckte zusammen, hob den Kopf und schüttelte ihn verwirrt. Nun hatte sie so einen schönen Tagtraum gehabt, bis dieses blökende Schaf aufgetaucht war und alles zerpflückt hatte. Vom wundersamen Feen-Volk war nichts mehr zu sehen, aber wenigstens waren die schönen Blumen noch da. Das Schaf seltsamerweise auch.
„Ich habe gefragt, ob die irre Sau weg ist, Viviane!“, blökte es noch lauter, diesmal vom Birkenhain aus. Das Schaf, genauer, Loranthus, hockte hoch oben auf der dicksten Birke und spähte ängstlich durch die Blätter. Viviane fragte sich tatsächlich für einen Moment, ob sie immer noch träumte. Sie musste sich erst einmal die Hand vor den Mund halten, um ein Kichern zu unterdrücken, bevor sie ihm antwortete. „Du kannst dich runtertrauen, die kommt so schnell nicht wieder.“
„Na, hoffentlich.“
Vor sich hin grummelnd hangelte Loranthus von Ast zu Ast und baumelte eine Weile am untersten, bis er endlich losließ. Ächzend landete er im weichen Gras drei Handbreit unter sich.
Viviane schlug die Hände vors Gesicht und unterdrückte einen Hustenanfall, während Loranthus mittels der Steine über das Bachbett trippelte; sie beobachtete ihn genau durch die Finger hindurch. Er hatte etliche Kratzer an Händen und Gesicht, sonst sah er den Umständen entsprechend gut aus und konnte sich auch recht geschmeidig bewegen.
„Ich habe schon gedacht, die geht nie mehr weg“, murmelte er verlegen, kaum stand er bei ihr. „Aber mit einem Mal hat das wilde Vieh ganz seltsam geschnüffelt, den Kopf umhergeworfen und ist davongerannt wie auf der Flucht.“
Loranthus richtete sich zu seiner vollen Größe auf und Viviane konnte einen Anflug von Genugtuung aus seiner Stimme heraushören: „Ich habe noch gar nicht gewusst, wie grandios ich sprinten kann. Urplötzlich stand diese Sau vor mir und scharrte mit den Hufen. Da haben sich bei mir sämtliche Nackenhaare aufgestellt und ich bin gespurtet wie Herakles bei Olympia. Meinen Sprung übers Wasser hättest du sehen sollen! Allerdings habe ich auch nicht gewusst, wie schnell eine Sau rennen kann. Zum Glück habe ich diesen Baum gesehen, also bin ich hochgesprungen und geklettert. Ich bin noch nie auf einen Baum gestiegen, schon gar nicht dermaßen rasant.“
„Das hast du gut gemacht.“
„Ja, das sehe ich auch so. Oryeithai!“
Viviane verstand nicht ganz. Nun hatte sie ihn ordentlich gelobt, und kaum hatte er sich in Pose geworfen, schaute er unglücklich drein. Ja, er begutachtete mit wachsendem Entsetzen seine Erscheinung, dabei waren die paar Schrammen eher harmlos, auf dem rechten Handrücken befand sich die einzig klaffende Wunde.
Auffordernd streckte sie ihm den Wasserschlauch hin und wie erwartet begann er gierig zu trinken.
„Diese Blessuren“, sie zeigte auf sein Gesicht und die linke Hand, „da brauchst du bloß Spucke drauf machen. Einzig dein rechter Handrücken sieht schlimm aus, da ist besonderer Schutz notwendig. Am besten auf den Schnitt urinieren, jetzt sofort! Oder hast du das schon erledigt?“
„Was?!“ Hastig überprüfte Loranthus den Sitz seiner Hose und jammerte: „Das wollte ich gerade tun, als es hinter mir so seltsam knackte. Mir kam es vor, als ob mich jemand beobachtet. Da habe ich meine Hosen lieber wieder hochgezogen, um woandershin zu gehen. Aber da stand auch schon dieses Riesenvieh vor mir und ich vergaß, was ich eigentlich vorhatte. Nur eines wusste ich: Die würde mich umbringen, falls sie mich zu fassen bekäme! Das habe ich in ihren Augen gesehen!“
Loranthus betrachtete seinen anderen, nur leicht zerkratzten Handrücken und schnaufte schwer.
„Wegen des Biestes habe ich mir einen Fingernagel abgebrochen! Nein, vier! Ganze vier Stück!“
Eilig knabberte er am ersten verunstalteten Finger herum und schimpfte nebenbei über Wildschweine im Allgemeinen und irre Sauen im Besonderen.
Viviane staunte, wie lange er jammern und auf seinen Zeigefinger beißen konnte. Was für ein Aufwand wegen vier Nägeln, wo ihm doch noch viel mehr hätte abbrechen können.
„Oh, du armer kretischer Stier! Deine Hufe sind eingerissen? Mach nicht so viel Muh und Mühe, deine Leiden sollen auf wundersame Weise enden“, sang Viviane die zweite Stimme in seinem Gejaule und kramte in einer ihrer Taschen. Mit übertriebener Verbeugung überreichte sie ein schmales Kupferplättchen, das vorne eine spitze Kerbe hatte.
„Perfekt!“, jauchzte Loranthus und riss ihr das Teil fast aus der Hand. Sofort schabte er damit hoch konzentriert über seinen Fingernagel. „Dein Nagelschneider ist sehr scharf, ich danke dir, aber …“ Er legte seinen Kopf schief und schaute sie von unten her an.
„Ich werde das Gefühl nicht los, dass du dich über mich lustig machst.“
„Da trügen dich deine Sinne nicht, denn ich werde das Gefühl nicht los, dass du gar nicht begreifst, wie viel Glück du eigentlich hattest.“ Vivianes Hand zuckte verächtlich zu den Schrammen. „Die paar Blessuren sind kaum der Rede wert, du jedoch lamentierst wegen abgebrochener Fingernägel, als sei jemand gestorben! Was meinst du? Ob du noch jammern könntest, wenn sie dich erwischt hätte?“
Betreten schaute Loranthus auf seine Hände, wo ihn noch drei weitere Nägel zu besagtem Jammern animierten.
„Deinen Spott habe ich wohl verdient“, gab er zu und sah fest in Vivianes Augen, damit sie nicht mitbekam, wie er so rasch wie möglich die anderen Nägel bearbeitete. „Ich bin nie besonders agil gewesen. Ich habe eine sehr angesehene Schule durchlaufen und die Bücher meines Vaters studiert. Mich körperlich zu betätigen, ist mir gar nicht in den Sinn gekommen, höchstens, wenn ich musste, wie in der Schule. Sobald ich alt genug war, habe ich meinen Vater auf seinen Handelsreisen begleitet. Ich habe viele Orte kennengelernt, viele Menschen. Ergo hatte ich stets adrett auszusehen, eben vorzeigbar. Was meinst du, was ein Handelspartner von meinem Vater gedacht hätte, wenn ich auch nur ein winziges bisschen schäbig gewesen wäre oder gar gestunken hätte vor lauter Schweiß wie ein ranziger Ziegenbock! Wir sind eine uralte und sehr bedeutende Händlerdynastie!“
Loranthus merkte, wie er sich in Rage redete; den Nagel vom kleinen Finger hatte er schon viel zu kurz geschoren. Außerdem schien Viviane nicht besonders überzeugt. Er holte tief Luft und fuhr nun ruhiger fort: „Nun gut, ich merke, dies ist kein triftiger Grund für dich. Du bist wesentlich anders als ich. Noch so jung und trotzdem allem gewachsen. Du bist bestimmt als kleines Kind schon auf Bäume geklettert. Du kannst mir wirklich viel beibringen, Viviane.“ Mit seinem besten Hundeblick schaute er bittend zu ihr auf.
„Na, das Auf-Bäume-Klettern überlasse ich gerne meinen Brüdern, die haben mir das schließlich auch beigebracht.“
„Du hast