„Deine Denkweise ist nicht schlecht“, gluckste Viviane. „Vorrangig sind die Hecken wegen Bruder Wind da.“
„Dein Bruder? Wo?“ Loranthus hielt die Hand über die Augen, um Vivianes Verwandtschaft ausfindig zu machen.
„Nicht so ein Bruder. Bruder Wind. Der Wind, Loranthus. Verstehst du?“
„Ach der.“ Loranthus war tatsächlich ein wenig enttäuscht. Rasch verzog er sein Gesicht zu einem nachsichtigen Lächeln und nickte. Beinahe hätte er auch etwas über ‚keltische Denkweisen‘ gesagt, doch er konnte sich gerade noch rechtzeitig auf die Zunge beißen.
„Die Hecken dienen vorrangig als Erosionsschutz“, dozierte Viviane, als hätte sie einen sehr wissbegierigen griechischen Schüler vor sich. Natürlich hatte sie selbst noch nie einen kennengelernt, dieser hier war der Erste. „So kann der Wind den fruchtbaren Mutterboden nicht abtragen. Vielleicht hast du noch nie einen rauen Wind hierzulande erlebt, aber ich versichere dir, Bruder Wind kann eine immense Kraft entwickeln. Mit Leichtigkeit wirbelt er die Erde auf, dann landet die gedüngte Schicht irgendwo, wo sie uns nichts mehr nützt, und unsere Erträge fallen geringer aus.“
„Ihr düngt eure Felder? Ach so.“ Loranthus nickte eifrig.
„Natürlich halten die Hecken auch Wildschweine, Rehwild und Rotwild ab“, redete Viviane weiter und gab ihrer Stimme einen lobenden Unterton, weil er artig lauschte.
„Und wenn viele Haselnüsse an den Hecken hängen, kann man sich schon mal auf einen strengen Winter gefasst machen.“
„Ganz schön schlau, wie ihr in diesen rauen Landen zurechtkommt.“ Gönnerhaft begutachtete Loranthus noch einmal die Felder, dann widmete er sich den kleinen Dörfern am Fluss. Auch sie waren, genau wie das Gasthausdorf, von Hagebuttenhecken umschlossen und hatten Gehege für die Tiere. „Diese separaten Umfriedungen für das Vieh, warum bestehen die immer aus Hainbuchenhecken? Könnte man da nicht auch Haselnusssträucher pflanzen? Nussöl soll sehr schmackhaft sein.“
Viviane schmunzelte.
„In den Gehegen werden vorrangig Schafe und Ziegen untergebracht. Nun musst du wissen, Loranthus, dass Hainbuchen ihr Laub im Winter nicht verlieren. Es wird zwar dürr, aber es bleibt dicht und hängt ganz fest am Zweig, selbst bei heftigen Winden. So schützen die Blätter der Hainbuche unsere Tiere vor der gröbsten Kälte und im Frühling werden die neu sprießenden Blattknospen zur ersten Nahrung.“
Viviane deutete auf die nächstbeste Hainbuchenhecke, wo selbst auf Entfernung dürre Blätter neben frischen grünen zu sehen waren, und fügte noch an: „Natürlich schützen sie auch sicher vor wilden Tieren. Schau mal, wie dick das Geäst ist.“
Loranthus nickte bedächtig. Er schürzte die Lippen, tippte den Zeigefinger dagegen und stützte sein Kinn mit dem Daumen ab. Seine obligatorische Denkerpose – das wusste Viviane mittlerweile und freute sich, wie aufmerksam er rundum blickte.
Auch Hanibu sah interessiert hierhin und dorthin. Plötzlich zeigte sie zu einem Berg, der einen Wachturm auf seiner Kuppe hatte. „Da oben blinkt es seltsam!“
„Das sind bloß Lichtsignale, die sich die Wachtürme senden. Wahrscheinlich hat Aodhrix von uns erfahren und verteilt die Neuigkeiten jetzt von Warte zu Warte im ganzen Land.“ Loranthus machte ein verständnisloses Gesicht, und Viviane erklärte geduldig: „Die Wirtsleute gehören zu seinem Clan. Der Wirt ist garantiert einer seiner Krieger und muss nicht mal auf die Burg, um ihm über jeden Gast Bericht zu erstatten. Bestimmt hat auch er einen Spiegel. Auf diese Weise ist Aodhrix immer bestens informiert, was es Neues gibt, wer hier durchkommt und in welcher Absicht. Das ist wichtig zu wissen, besonders wenn man an der Grenze zu einem anderen Großkönigreich liegt. Natürlich kann ein Reisender überall ein Obdach bekommen. Ob bei Bauern oder Handwerkern, er wird immer gut bewirtet und untergebracht, aber auch dann erfährt der jeweilige König davon. In unserem Land bleibt nichts geheim. Wartberge haben wir genug, manche mit richtigen Burgen, andere bloß mit Wachtürmen wie diesem hier. Und offensichtlich hält Aodhrix etwas, das er erfahren hat, für so wichtig, dass er es mit Lichtgeschwindigkeit weitergeben muss.“
Amüsiert schaute Viviane dem hektischen Blinken auf dem Berg zu, dann betrachtete sie Loranthus von der Seite. Er befand sich wieder in Denkerpose und seine Gedanken standen ihm förmlich auf der Stirn geschrieben, dick unterstrichen und noch schneller zu lesen als Lichtsignale.
„Deine Räuber wussten das, garantiert. Sie müssen sich stets in Wäldern versteckt gehalten haben und sind nur nachts über offenes Gelände geschlichen, sonst hätten unsere Wächter Alarm gegeben. Von den Warten aus überblicken sie weite Gebiete. Die können dir heute schon sagen, wer morgen zum Abendbrot vorbeikommt.“
Beim Gedanken an den Überfall sackte Loranthus traurig in sich zusammen. Er war nicht nur einfach ausgeraubt, sondern auch noch seines standesgemäßen Transportmittels beraubt worden, und hier, eingequetscht zwischen den großen Taschen, gab er ein jämmerliches Bild ab, das wusste er.
„Ich schäme mich dermaßen …“ Unvermittelt setzte er sich gerade und gluckste: „Aber weißt du, Viviane, ich mache einfach aus der Not eine Tugend. Angefangen habe ich schon.“ Gut gelaunt wedelte er mit seinem neuen Mantel und deutete hinter sich. „Angus und Markus wollen sich ein bisschen umhören. Sie kennen viele Leute und kommen durch viele Gegenden, vielleicht hat jemand die Kutsche oder die Räuber gesehen.“
„Eine gute Idee! Sag mal, Loranthus, wart ihr eigentlich immer mit Händlern unterwegs?“
„Ja. Mein Vater gab mir diesen Rat. ‚Bleib stets und ständig unter Händlern‘, sagte er. ‚Das ist die sicherste Art zu reisen. Und wenn du keinen findest, der in deine Richtung will, dann wartest du eben, es eilt ja nicht.‘ Aber das letzte Stück im Chattenland waren wir allein, weil der Händler, mit dem wir gereist sind, auf den Vogelsberg abgebogen ist.“
„So, so. Ab dem Vogelsberg wart ihr also alleine unterwegs. Nun, diese veränderte Situation war wie gemacht für den Überfall.“
„Ja, hinterher kam mir das auch in den Sinn, doch gestern Morgen hatte ich überhaupt keine Bedenken gehabt. Die paar Meilen werden wir noch schaffen, habe ich gesagt. Alles war so friedlich …“ Seufzend ließ Loranthus wieder Kopf und Schultern hängen.
„Reiß dich zusammen! Wenn wir die Räuber erwischen, denken wir uns etwas ganz Besonderes für sie aus. Die werden nie wieder andere Leute überfallen.“
Loranthus lachte laut auf. „Bei Hermes, darauf freue ich mich jetzt schon!“
Schweigend ritten sie weiter und genossen die Wärme der Frühlingssonne. So ein schöner Tag mit Schäfchenwolken am Himmel und lauem Lüftchen – kein Vergleich zu gestern, als sich Regen, Schnee und sogar Hagel in kurzer Folge abgewechselt hatten. Nichts Ungewöhnliches hierzulande in dieser Zeit, in diesem Mond, wie Angus und Markus ihm versichert hatten, man musste sich eben dementsprechend kleiden.
Gedankenversunken strich Loranthus über seine neuen Kleider und beglückwünschte sich, zufällig eine prima Qualität ergattert zu haben. Die Wolle von Hemd und Hose war weich, das Garn ganz dünn, der Gürtel saß perfekt, die Stiefel waren bequemer als seine geraubten, und der Mantel erst noch – absolut dicht, da konnten Regen und Schnee von ihm aus noch mal kommen. Irgendetwas roch hier verführerisch … Fasziniert schaute er sich um.
Sie ritten neben einer schmalen Waldwiese, die über und über mit Veilchen bedeckt war, es duftete einfach wunderbar. Genüsslich atmete er die warme Luft ein, wollte den Blick schweifen lassen, wollte sich wohlfühlen … unruhig begann er jedoch, auf dem Sattel herumzurutschen.
„Kh, kh“, hüstelte Loranthus und blickte für Vivianes Begriffe ein wenig gehetzt drein. „Könnten wir hier rasten? Ich müsste mal kurz in den Wald.“