Den Ausgangspunkt seiner theoretischen Ableitung bilden nicht mehr die göttlichen Ver- und Gebote, sondern die Erfordernisse des menschlichen Zusammenlebens. Ihren Zielpunkt markieren nicht länger die Bestimmungen der Glückseligkeit und des ewigen Heils, sondern die Bedingungen und Formen, Mittel und Wege zur (Wieder-)Herstellung des irdischen Friedens. Mit Aristoteles erblickt Marsilius den Ursprung der Gemeinschaft (I,3) im menschlichen Streben nach Selbsterhaltung, d.h. im bloßen Überlebenwollen, ihren Endzweck (I,4) hingegen im „guten Leben“, d.h. in einem befriedeten und geglückten Dasein. Da aber schon das bloße Überleben infrage gestellt war, verlagerte sich der Akzent von der Zweck- (causa finalis) auf die Wirkursache (causa efficiens). Erforderlich zur Sicherung des Friedens ist nach Marsilius ein Regiment, in dem der weltliche Herrscher die geistlichen Würdenträger kontrolliert und über die Rechtmäßigkeit ihres Verhaltens wacht. Anstatt die Politik zu dominieren und ihre Richtlinien zu bestimmen, hat die Religion in ihren Dienst zu treten und sich dem Ziel der Friedenssicherung unterzuordnen. Die Priester und Pastoren haben unverzichtbare pädagogische und zivilisatorische Funktionen („Seelenpflege“), von den politischen Angelegenheiten haben sie sich aber fernzuhalten. Damit war die traditionelle christliche Lehre von den zwei Gewalten, dem Mitund Gegeneinander des geistlichen und weltlichen Schwertes, zugunsten einer einheitlichen weltlichen Gewalt preisgegeben, die zugleich über den Klerus gebietet (II,18,9).
Weder Gott noch die Natur hat festgelegt, welche politische Organisation das Zusammenleben regelt. Es ist Aufgabe der Bürgerschaft oder ihres „bedeutenderen Teils“, sich eine Verfassung zu geben. Liegt es einerseits im freien Ermessen der Bürger, ob sie sich in autonomen Städten (civitates) selbst verwalten oder aber zu übergreifenden Reichen (regna) zusammenschließen (I,2,2; I,17,11), so hängt es andererseits auch allein an ihnen, welche konkrete Ordnung sie in dem von ihnen konstituierten Gemeinwesen etablieren. Marsilius übernimmt die Verfassungslehre des Aristoteles und unterscheidet mit ihm „gute“ und „schlechte“ Formen (I,8). Als „gut“ gelten alle Regierungen, die in Übereinstimmung mit dem Willen der Bürger und Untertanen handeln, als „schlecht“ hingegen jene, die ihn missachten und gegen ihn verstoßen (I,9). Es ist folglich gleichgültig und den Bürgern überlassen, ob sie die Alleinherrschaft eines Mannes (Monarchie) oder eine kollektive Regierung der „valentior pars“ (Aristokratie) oder gar die politische Selbstbestimmung und -verwaltung des gesamten Volkes (Politie) institutionalisieren. Entscheidend ist, dass die jeweilige Regierung nicht zur Tyrannis, Oligarchie oder Demokratie „entartet“. Das Recht zur Gesetzgebung liegt beim Volk (humanus legislator), das Recht selbst entspringt nicht länger einer transzendenten Quelle oder der „Natur“, sondern der jeweiligen Macht (potestas) des Herrschers, der seine Legitimität vom Volk herleitet. Allerdings wird das gesetzgebende „Volk“ bei Marsilius nicht durch die Gesamtheit aller Individuen konstituiert und repräsentiert, sondern durch die einander zugeordneten und aufeinander bezogenen mittelalterlichen Stände. Ungeklärt und strittig bleibt, ob der Defensor pacis eine „gemäßigte“ (Wahl-) Monarchie, eine Aristokratie oder vielmehr die Selbstverwaltung der bürgerlichen Führungsschicht in den oberitalienischen Städten als die beste und für die Friedenssicherung geeignetste Ordnung begründet hat. Dieser Streit lässt sich nicht schlichten, weil der Paduaner nicht näher bestimmt hat, wer jeweils zur valentior pars zu rechnen ist, d.h. zum immer wieder beschworenen (im vorstehenden Textauszug missverständlich mit „Mehrheit“ übersetzten) „bedeutenderen Teil“ der Bürgerschaft.
Als Bürger gilt – wie schon bei Aristoteles – jeder, der an der regierenden, beratenden oder richterlichen Gewalt teilhat, „je nach seinem sozialen Rang. Diese Beschreibung schließt von den Bürgern die Knaben, die Sklaven, die Fremden und die Frauen aus“ (I,12,4). Die Civitas und/oder das Regnum wird folglich als Männerbund verstanden, als eine „Gemeinschaft freier Männer“ (§ 6). Während in den Stadtkommunen auch aristokratische oder bürgerlich-elitäre Formen der Willensbildung und Entscheidungsfindung denkbar sind, werden die übergreifenden Reiche wohl eher „gemäßigte“, d.h. rechtlich begrenzte Wahlmonarchien sein, in denen die oberen Stände tatkräftig mitwirken und vor allem beratende Funktionen ausüben. Dass die Angehörigen der Unterschichten an den drei Gewalten partizipieren und dadurch Bürgerstatus erlangen, ist eher unwahrscheinlich, wenngleich nicht prinzipiell ausgeschlossen. Die vollwertigen Bürger aber sollen nach Möglichkeit zugleich Urheber und Objekte des Gesetzes sein, da ein Mensch am liebsten solche Gesetze befolgt, von denen er glaubt, dass er sie sich selbst auferlegt hat (§ 6). Der beste Gesetzgeber ist demnach „die Gesamtheit der Bürger oder deren Mehrheit (eius valenciorem partem), die die Gesamtheit vertritt“ (§ 5).
Mit seinen eindringlichen Analysen hat Marsilius die Grundsätze der künftigen Politik formuliert. Mithilfe seiner begrifflichen und theoretischen Klärungen ließ sich nicht nur die Politik Ludwigs des Bayern gegenüber der Papstkirche in Avignon rechtfertigen, auch die westlichen Monarchien und die lombardischen Städte konnten sich in ihrem Streben nach Selbstständigkeit und Autonomie auf den Defensor pacis berufen. Dieser konnte so zum Ausgangspunkt des künftigen Staatsdenkens werden. Die späteren Reichsapologeten hingegen taten sich schwer mit dem Gedanken der Volkssouveränität, durch den die Entscheidung über die Verfassung und die konkrete Form der Regierung in die Hände der Bürgerschaft gelegt wurde und die Idee der Universalmonarchie als disponibel und letztlich als überflüssig erschien. Auf dem von Marsilius geebneten Weg konnten spätere Staatstheoretiker – von Machiavelli bis Hobbes, von Locke und Rousseau bis hin zu Hegel – weiterschreiten. Ziel der Politik ist nicht mehr die Verwirklichung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Friedenssicherung und die Ermöglichung eines einträchtigen Zusammenlebens. Dazu ist weder eine Universalmonarchie noch eine vom Papsttum beherrschte Anstaltskirche nötig. Es genügt, wenn sich die Städte und Provinzen ordentlich verwalten und – bei Bedarf – zu größeren Reichen oder zu Staaten zusammenschließen, in denen die Gesamtheit oder ihr „bedeutenderer Teil“ die Geschicke des Gemeinwesens bestimmt.
→ Dieser Beitrag ist digital auffindbar unter: DOI https://doi.org/10.46499/1651.2040
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