Die Musik auf den Dächern. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542636
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gehört. In weniger als zwei Tagen.

      Es ist nie genug. Und dann ist auf einmal das bisschen, das man hatte, auch noch weg. Ich glaube, es ist egal, ob er es war oder nicht. Zumindest an seinem Buch ändert es nichts.

      Und diese ganzen Wichser, die jetzt sagen, was dann passiert ist, sei ein klares Schuldeingeständnis, können mich mal. Sie kannten ihn nicht. Sie wissen nicht, wie das Verfahren ausgegangen wäre. Sie wissen nicht, was diese ganzen Meldungen mit ihm gemacht haben.

      Er ging immer noch raus, redete immer noch mit allen, aber wir konnten sehen, dass es ihm nicht gut ging. Alle konnten sehen, dass irgendetwas in ihm zerbrochen war. Etwas, das mit einem Freispruch auch nicht zu heilen gewesen wäre. Wir standen hinter ihm. Manche verfluchten jeden Tag diese Redakteurin, manche wollten sie viel übler zurichten, als es bereits geschehen war. Manche glaubten, sie hätte ihn verwechselt, es müsse ein anderer Dunkelhaariger gewesen sein. Fast alle hätten für ihn die Hand ins Feuer gelegt. Ein paar glaubten, es hätte ihm vielleicht jemand etwas in den Drink gemixt. Ich weiß nicht, ob er es war. Ich hatte ihn schon mal völlig falsch eingeschätzt, als ich die drei Seiten gesehen habe. Doch es sieht ihm nicht ähnlich, eine Frau zu schlagen.

      Aber jetzt glauben alle da draußen, er wäre sonst nicht am Tag vor der Verhandlung von der Brücke gesprungen. Mit einem Seil um den Hals.

      Ich weiß nicht, wie man auf so eine Idee kommt. Vielleicht wollte er einfach nicht ins Wasser. Aber Brücke passte irgendwie. Ich weiß es nicht.

      Aber ich weiß, wie sehr er uns fehlen wird und wie viel er für uns getan hat. Wie sichtbar er uns mit seinem Buch gemacht hat.

      Ich kriege dieses Bild nicht aus meinem Kopf, wie er zwei Meter fünfzig unter der Zoobrücke hängt und baumelt. Obwohl ich es nicht gesehen habe. Gesehen habe ich, wie er sich bückt und drei Seiten unter dem Teppich hervorholt.

       DAS KLEID MEINER MUTTER

      Als ich aufwachte, lag wieder das Kleid meiner Mutter im Garten. Dieses Mal das mit dem bunten Blumenmuster, mitten auf dem Rasen.

      Beim ersten Mal war es das rot gepunktete gewesen. Ich war aufgewacht, hatte noch ein wenig im Bett gelegen, im Haus war es still gewesen, es musste einer von den roten Tagen im Kalender sein. Ich wollte runter in die Küche gehen und mir Cornflakes holen, um sie im Bett zu essen, während ich Märchen hörte.

      Als ich an der Terrassentür vorbeikam, bemerkte ich draußen einen Farbfleck auf dem Rasen. Als ich hinausschaute, sah ich das Kleid meiner Mutter. Ich ging raus und blieb vor dem Häufchen Kleid stehen. Ich sah hoch zum Schlafzimmerfenster, doch es war zu weit rechts, dort konnte sie es nicht rausgeworfen haben. Und warum sollte sie das auch tun? Aber wenn sie es nicht rausgeworfen hatte, warum lag es dann hier? Ich versuchte, mich zu erinnern, was sie am Abend angehabt hatte. Nicht dieses Kleid, glaubte ich. War ihr irgendetwas passiert? Ich war nicht aufgewacht, ich hatte Vater nicht schreien hören. Hatte sie ihren Koffer gepackt und war durch den Garten rausgegangen und hatte dabei dieses Kleid verloren? War sie weg?

      Ich ging wieder ins Haus, als würde das helfen. In der Küche standen zwei Gläser, die nicht in die Spülmaschine geräumt waren. Zwei, sagte ich mir. Zwei. Zwei. Wie Hänsel und Gretel. Wie Schneeweißchen und Rosenrot. Wie Brüderchen und Schwesterchen. Wie der Fischer und seine Frau.

      Zwei. Das sagte ich mir manchmal abends unter der Bettdecke. Ich zog sie mir über den Kopf und dachte: Ich werde es ganz lange hier aushalten und immer wieder zwei sagen. Zwei. Zwei. Zwei. Zwei. Eine Eins und eine Eins, die ganz fest zusammengehören. Zwei, zwei, zwei, zwei.

      Ich versuchte oft, Dinge zweimal zu machen. Zwei Schlucke trinken, bevor ich das Glas absetzte. Die Türklinke zweimal herunterdrücken, bevor ich die Tür aufmachte. Immer zweimal Danke sagen. Danke. Danke. Und Bitte auch. Bitte. Bitte. Wenn ich wusste, dass niemand in der Nähe war, der schimpfen konnte, spülte ich zweimal, wenn ich auf der Toilette gewesen war. Ich hörte Märchen zweimal hintereinander. Eins und eins.

      Einmal hat meine Mutter mich gefragt, warum ich ihr immer zwei Küsse gebe.

      – Weil ich mir vorstelle, dass ich einen Freund habe, mit dem ich alles teile, habe ich gesagt. Für ihn gebe ich dir auch einen Kuss.

      Sie hat mich komisch angesehen, aber sie hat mir geglaubt. Sie glaubte mir auch, dass das Taschengeld mir nicht wichtig wäre. Weil ich nie danach fragte, auch wenn sie es vergaß, was oft passierte. Ich wusste, dass sie mir mehr gab, wenn sie glaubte, es wäre mir nicht wichtig.

      Sie glaubte, ich wäre nicht gierig. Sie glaubte, ich würde nicht lügen. Sie glaubte, ich würde schlafen, wenn sie weinte. Dabei war ich unter der Bettdecke und murmelte: zwei, zwei. Ich muss nur länger unter der Bettdecke bleiben, als sie weint. Dann wird alles gut. Dann wird alles gut.

      Ich sah mich noch mal im Wohnzimmer um. Vor dem Sessel waren die Schuhe meines Vaters. Dort zog er sie sonst nie aus. Die Schuhe meiner Mutter waren nicht da. Auch nicht im Flur. War sie etwa doch gegangen? Gegangen? Ich machte den Wandschrank auf. Ich zählte. Alle Koffer waren noch da. Ich zählte noch mal.

      Hatte sie eine Tasche mitgenommen? Einen Beutel? Aus dem dann das Kleid gefallen war? Es zog in meinen Handflächen und Fußsohlen, wie es schon vorher gezogen hatte, als ich das Kleid gesehen hatte. Ich kannte das Gefühl. Ich hatte es erfunden. Ich wusste aber keinen Namen dafür.

      So zog es auch, wenn mein Vater auf diese bestimmte Art ausatmete und ich wusste, dass jetzt nichts mehr die Zukunft verändern konnte. Ich konnte ihn bitten, mit mir Memory zu spielen, ich konnte versuchen, mit ihm zu balgen, ich konnte ihn küssen oder ich konnte wie aus Versehen ein Glas fallen lassen, ich konnte die Musik zu laut machen, aber ich konnte die Zukunft nicht mehr verändern. Bitte. Bitte. Danke. Danke. Wenn er so ausgeatmet hatte, war alles zu spät. Ich weiß nicht, ob meine Mutter das auch wusste. Manchmal sah es so aus, als würde sie alles dafür tun, damit er so ausatmete, als sei er sehr, sehr müde. Wenn er so ausgeatmet hatte, zog es in meinen Händen und Füßen.

      Ich schlich leise die Treppe hoch, nachdem ich den Wandschrank vorsichtig wieder geschlossen hatte. Ich glaubte, man könne das Gefühl hören, das ich erfunden hatte. Leise, sehr leise drückte ich die Klinke runter. Und ließ sie wieder los. Und drückte sie noch mal runter und machte die Tür auf, einen Spalt nur.

      Mutter lag im Bett.

      Das Ziehen in meinen Händen und Füßen verschwand.

      Vater lag auch im Bett.

      Man konnte ein Stück ihres Rückens sehen. Sie trug keinen Schlafanzug.

      Leise schloss ich die Tür, ging wieder runter in den Garten und sah auf das Kleid. Obwohl Mutter im Bett lag, kam das Gefühl zurück, als ich auf das Kleid sah.

      Ich ging in mein Zimmer und zog mir die Decke über den Kopf. Zwei. Zwei. Als ich schon keine Luft mehr bekam, zog ich die Decke weg, ging runter und holte mir Cornflakes. Dann setzte ich mich auf das Bett und hörte Die zertanzten Schuhe.

      Wie oft hatte ich mir vorgestellt, ich hätte auch ein Bett, an das man klopfen konnte und das dann in der Erde verschwand und einen geheimen Gang freigab. Einen Gang, der einen an einen Ort führte, an dem man die ganze Nacht froh sein konnte.

      Und wie oft hatte ich mich gefragt, warum die Prinzessinnen nicht barfuß gingen, warum sie es zuließen, dass ihre Schuhe sie jeden Morgen verrieten. Tanzen konnte man doch auch barfuß.

      Jetzt fragte ich mich, ob meine Mutter vielleicht so eine Tür oder einen Schrank hatte, an den man klopfen konnte und man sah eine geheime Treppe. Und ob sie ihr Kleid nicht absichtlich hier gelassen hatte, weil es sonst morgens verriet, wo sie nachts gewesen war. Weil sie es verschwitzte beim Tanzen. Aber warum war es dann im Garten? Ich sah aus dem Fenster. Es lag immer noch da.

      Waren die Prinzessinnen eigentlich unglücklich, nachdem ihr Geheimnis entdeckt worden war? Wieso sollten sie nachts nicht tanzen? Was war mit der Ältesten, die den Soldaten heiratete, der sie verraten hatte? Atmete der Soldat auch so aus wie mein Vater? Weinten die Prinzessinnen, weil sie nicht mehr in das unterirdische Schloss durften? Warum wurden