Die Musik auf den Dächern. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542636
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die Bühne, die Ausstattung, der Regisseur und alle Schauspieler gleichzeitig. Hillalum. Ich bin hier.

      Wenn man am Ende der Zeit angekommen ist, am Ende der Zeit Hillalums, wird es ein Erwachen geben für jemanden, der nie Hillalum gewesen ist.

      Ein König mag glauben, dass er ein Reich hat. Doch vielleicht ist es das Reich, das einen König hat.

      Hillalum mag daran zweifeln, dass er eine Seele hat.

      Die Seele zweifelt nicht daran, dass sie einen Körper hat.

      Du bist nicht dieser Körper. Was wäre anders, wenn man dir eine Hand abhacken würde? Du würdest dich immer noch Hillalum nennen. Du bist auch nicht deine Gedanken. Deine Gedanken haben sich geändert, immer wieder. Du bist nicht, was du siehst, denn auch das hat sich stets geändert. Du bist nicht, was du hörst. Und du bist auch nicht, was du fühlst. Nicht die Freude und nicht der Schmerz. Du bist. Ein Teil. Ich bin. Ein Teil.

      Auch dort, wo du Schatten siehst, ist Licht. Licht, das woanders hinfällt.

      Du bist. Der Atem. Die Zeit. Das Licht.

      Es hat nie einen Hillalum gegeben. Es gibt keine Tropfen im Ozean.

      Ich bin. Die Schöpfung. Das Licht. Das Leben.

      Der Tod des Todes.

      Du bist.

      Ich bin.

      Das Licht und der Atem und der Schatten.

      Du weißt.

      Jeder weiß.

      Alles weiß.

      Alles hört.

      Alles.

      Nichts.

      Alles.

      Eins.

       DREI SEITEN

      Vergiss es, hatte ich gedacht, als er mir die drei Seiten zeigte, vergiss es, das wird nie was. Das Bild, wie er eine der Ecken des Teppichs hochhob und diese drei Seiten Papier hervorholte, habe ich lange Zeit nicht vergessen, bis sich dann dieses andere davorschob.

      Wenn du schreibst und veröffentlicht wirst, finden sich Menschen, die auch schreiben. Du ziehst sie an. Die Leute kommen zu dir, zeigen dir ihre Texte. Sie erwarten etwas von dir, Kritik, Lob, Aufmunterung, Mut, Hoffnung, Licht, Liebe, Kontakte zu Agenten und Verlagen oder auch nur das Gefühl, dass da jemand ist, der versteht. In jedem Fall wollen sie deine Aufmerksamkeit.

      Ich habe in den Jahren seit meinem ersten Buch viele Menschen kennengelernt, die schrieben oder schreiben wollten. Ich habe Kurzgeschichten, Gedichte, Romananfänge gelesen. Bei den meisten Texten wusste ich nach zehn Zeilen: Das wird nichts. Kein Feuer, kein Mut, keine eigene Sprache, keine Tiefe, kein Vertrauen.

      Nicht alle Autoren lesen, was sie da aufgedrängt bekommen, und ich habe ein paar Jahre gebraucht, um einen Umgang mit diesen Texten und Menschen zu finden, der weder anstrengend noch verletzend ist.

      In den 90ern habe ich gesehen, wie ein Fan Henry Rollins bei einer Spoken-Word-Show unterbrochen hat und ihm eine Kassette geben wollte. Rollins lehnte kurz und bestimmt ab. Der Fan versuchte es noch einmal. Rollins riss ihm die Kassette aus der Hand, warf sie wütend weg und sagte irgendetwas Beleidigendes. Danach machte er weiter, als wäre nichts geschehen. Das Publikum brauchte ein, zwei Minuten, bis es sich wieder auf die Show konzentrieren konnte. Der Fan fühlte sich sicher länger schlecht.

      Ich bewundere Rollins bis zum heutigen Tag und ich habe ihm viel zu verdanken. Er hat mein Verständnis davon, was da auf der Bühne mit den Worten passiert, deutlich stärker geprägt als jeder Schriftsteller, den ich gehört habe.

      Aber ich wollte nie so sein mit den Menschen, die zu mir kamen. Er vielleicht auch nicht. In einem seiner frühen Bücher schreibt er, wie er Fanpost beantwortet, beantworten muss, weil er sieht, wie das Blut aus den Umschlägen tropft.

      Die Menschen kommen zu dir, weil sie dich bewundern, weil sie glauben, du wüsstest etwas, das sie nicht wissen. Ich wollte nicht abweisend sein, nicht kränkend, aber ich wollte mir auch keine Arbeit aufhalsen und mich länger mit diesen Texten befassen als notwendig.

      Schick es mir, sagte ich immer, wenn mich einer nach einer Lesung ansprach, schick es mir, doch das beinhaltet die Gefahr, dass ich es lese und es meinen Geschmack nicht trifft. Mein Geschmack ist natürlich kein Qualitätsurteil, und ich begründe ihn auch nicht weiter. Doch wenn es mir gefällt, tue ich, was immer ich für dich tun kann.

      Das war nicht gelogen. Es passierte nur so selten, dass mir ein Text gefiel. Doch wenn mir der Text gefiel, tat ich alles, was in meiner Macht stand, damit er mehr Leser fand. Was in der Regel nicht viel war. Aber immerhin hat es einem Kollegen seinen ersten Buchvertrag eingebracht. Einem anderen den Abdruck einer Kurzgeschichte in einer Anthologie. Was ein Start hätte sein können in eine Schriftstellerlaufbahn, doch er hat es vorgezogen, Lehrer zu werden, weil es ihm zum Schreiben zu gut ging, wie er sagte.

      Ich habe etwas gelernt. Ich kann diese Leute von Weitem erkennen, an ihrer Körperhaltung, an ihrem Gesichtsausdruck, an ihrer Nervosität oder spätestens daran, dass sie warten, bis die anderen verschwunden sind, bis alle Bücher signiert sind, alle Gespräche beendet, und sie mich einen Augenblick lang ganz für sich allein haben. Und meistens konnte ich auch sehen, dass der Text mir nicht gefallen würde.

      Ich glaubte, ich wüsste was. Ich hätte etwas verstanden.

      Arbër kannte ich nicht, weil er schrieb, sondern weil er sich viel herumtrieb. Jeder im Viertel kannte Arbër. Er stand im Kiosk und redete, er stand im Imbiss und redete, er stand vor dem Handyladen, vor der Eisdiele, meist erst ab Mittag. Abends trieb er sich noch viel mehr herum, aber das bekam ich nicht mit, weil ich nur noch selten abends wegging.

      Arbër war Ende zwanzig, er hatte gekellnert, Pakete ausgefahren, Regale aufgefüllt, hatte an einer Supermarktkasse gesessen, hatte beim angesagten Biobäcker im Viertel bedient, weil die ihn charmant fanden. Aber sie konnten nicht damit umgehen, dass er häufig fünf Minuten zu spät kam.

      Irgendeine Arbeit fand sich immer, aber er blieb nie lange. Er mochte es, draußen zu sein und mit Menschen zu reden. Wenn ihm zwei, drei, vier Leute zuhörten, während er in einen Monolog verfiel, war das Glück für ihn. Wie schön, dass wir hier stehen und reden können.

      Er war auch ein guter Zuhörer, ein verdammt guter. Vielleicht noch viel besser als ich, der sich immer Stoff für eine Geschichte erhofft. Er konnte sich stets an Details erinnern, die man ihm vor Monaten erzählt hatte.

      Meistens war Arbër gut gelaunt und er hatte ein Talent, seine Laune auch auf andere zu übertragen. Wenn man zehn Minuten mit ihm an einer Straßenecke gestanden hatte, erschien das Leben hinterher meist leichter.

      – Wie machst du das eigentlich?, fragte er einmal. Du sitzt jeden Tag allein da und schreibst?

      – Ja.

      Er schüttelte den Kopf.

      – Respekt, sagte er. Ich habe noch nie was von dir gelesen, aber Respekt, abi. Wenn meine Mutter nicht da ist, mache ich immer den Fernseher an, damit ich mich nicht allein fühle.

      Er wohnte mit seiner Mutter in einer Dreizimmerwohnung in einer Straße, in der die Mieten noch nicht gestiegen waren. In seinem Zimmer standen immer leere Bier- und Weinflaschen und auf dem Couchtisch lag immer alles, was man brauchte, um einen Joint zu drehen. Manchmal gab es auch Schnelles daneben.

      Seine Mutter freute sich, wenn jemand kam, nie schien es ihr zu viel zu werden und immer gab es Gebäck oder Süßkram, oft presste sie Orangensaft für uns. Sie konnte wenig Deutsch, aber sie kannte alle Namen von denen, die öfter als einmal bei ihr gewesen waren. Auch Jahre später noch.

      Es war dann nicht mal Arbër selbst, der mir erzählte, dass er einen Roman schrieb. Es war der Betreiber vom Kiosk gegenüber der Zoo-Bar.

      – Hast du schon gehört, Arbër schreibt ein Buch.

      – Echt? Worüber