Die Musik auf den Dächern. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542636
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Damals bei der Baumwollernte haben wir uns nachts heimlich aus der Turnhalle geschlichen, in der wir schliefen. Alle Studenten mussten zur Baumwollernte. Wir haben uns geküsst, nachts unter den Sternen. Heiraten.

      – Aber du hast keinen Mann, sagt Cenk.

      – Hm. Stimmt.

      Ich habe keinen Mann. Odil. Seine Küsse schmeckten, als würden wir tanzen zu den Wellen im Meer. Odil. Vielleicht streichelt jetzt Guzal sein lockiges Haar. Odil. Das war kein Haus. Kein Leben. Das war nur ein Sommer. Ich habe mich alt gefühlt, als er zu Ende ging.

      – Mein Vater hat seine Arbeit verloren, sage ich. Und ich habe Arbeit gefunden. Hier in Deutschland. Weil ich mich mit Walnüssen auskenne und mit Zentralasien. Und weil ich Deutsch kann. Und Russisch.

      Ich könnte an dieser Stelle … Doch ich tue es nicht.

      – Weißt du, sage ich, ich bin nach Deutschland gekommen wie der Vater deines Vaters. Um zu arbeiten.

      Sein Großvater hat in einer Fabrik gearbeitet, die Autos baut, das kann ein Kind sich vorstellen, aber ich arbeite in der Zertifikation von Agrarprodukten.

      Cenk hört auf, mit meinen Haaren zu spielen, seine Lider sind schwer.

      – Ich werde wieder gehen, sage ich. Vielleicht schon bald.

      Cenk reißt die Augen auf und sieht mich an. Ich habe es auf Deutsch gesagt. Und jetzt schweige ich. Als hätte ich ihn verraten. Ich gebe ihm einen Kuss auf die Stirn.

      Ich könnte ihn fragen. Oder ich könnte versuchen, ihn dazu zu verführen, wenigstens mit mir einige Worte Deutsch zu sprechen. Vielleicht sollte ich mir Gedanken darüber machen, dass er nächsten Sommer schon in die Schule kommt. Vielleicht sucht sich der Lauf der Dinge auch ein eigenes Bett. Ohne dass ich frage.

      Fragen. Wie die, die ich Odil gestellt habe. Er hat geschwiegen und das war Antwort genug.

      Man kann ein ganzes Leben lang Kaffee trinken und Fragen stellen. Man kann ein ganzes Leben lang sein Bett dort suchen, wo die Arbeit ist. Oder wo das Meer ist. Man kann nicht einfach nur jeden Mittwoch Das prächtige Jahrhundert schauen.

      Ich habe mich alt gefühlt nach jenem Sommer mit Odil, aber in Deutschland fühle ich mich noch älter, viel älter. Vielleicht ist es nicht verwunderlich, dass die Kollegen mich fragen, ob es früher besser war oder jetzt.

      Cenk spricht kein Deutsch. Vielleicht, weil er nicht in diese Welt möchte. Er ist ein Kind, wer weiß, wie er die Dinge in seinem Kopf verknüpft und wo er seinen Platz sieht. Er ist ein Kind und er ist weder dumm noch unglücklich. Die Kindheit währt nur fünf Tage und es gibt Fragen in ihr, aber keine Fremde. Und keine Sehnsucht, die einen zum Kaffee greifen lässt, keinen Gram und keine schwermütige Nostalgie.

      Die Kindheit, unser Viertel, meine Gefährten, meine Verbündeten, unsere Spiele und Schreie und Odils Locken. Wir kannten es nicht anders. Fortziehen und fremd werden, das war dasselbe Wort, aber wir wussten nicht, was es sagen wollte. Erst unter der Erde werden wir wieder wie Kinder werden, erst wenn wir unter der dunklen Erde liegen, werden unsere Fehler vergessen sein und mit ihnen auch die Sehnsucht.

      Ich fühle mich hier zwar manchmal so, als wäre Erde über mir, aber der Mund ist noch an der Luft, ich trinke, ich rede, ich esse. Ich bin tief im Erdreich, doch die Sehnsucht ist wie Wasser, sie findet immer ihren Weg. Und hält mich am Leben. Vielleicht sollte Patrick zu Hause bleiben. Vielleicht sollte ich stattdessen mit Cenk Deutsch sprechen. Ein-, zweimal die Woche.

      Seine Augen sehen jetzt schon wieder müde aus. Er weiß, dass ich nicht gehen werde ohne Abschied. Nicht verschwinden werde wie sein Vater. Er vertraut mir. Warum sollte ich ihm Fragen stellen, deren Antworten andere interessieren?

      Seine Wimpern sind lang und dick und biegen sich nach oben. Er schläft jetzt, das leise Lied seines Atems hat keine Sprache. Auch er wird groß werden, auch in ihm wird eine Sehnsucht wachsen, der er vielleicht keinen Namen geben kann, auch er wird heiße Getränke trinken, er wird lügen und belogen werden, er wird verletzen und verletzt werden, er wird lieben und vielleicht jemand mit einem Haus werden oder einem Leben, vielleicht wird sich die Liebe anfühlen, als wäre er für immer allein. Ihm werden noch über vierzigtausend Dinge geschehen. Nur jetzt und hier kann ich seinen Schlaf hüten, aber ich kann ihn nicht mal vor seinen eigenen Träumen beschützen.

      Was sieht er im Traum? Und wenn er im Traum im Kindergarten ist, welche Sprache reden die anderen dann? Doch sicherlich Deutsch. Die Kollegen auf der Arbeit fragen mich, auf welcher Sprache ich träume. Als könnte es nur eine Sprache geben, als könnten sie irgendetwas besser verstehen, wenn sie wissen, welche die Sprache in meinen Träumen ist. Ich rede Kasachisch mit meiner Mutter, Usbekisch mit meinem Vater, Deutsch mit meinen Kollegen und Türkisch mit Esra und Cenk. Auch in meinen Träumen. Wie sollte es anders sein? Ich träume selten von meinen Kollegen und der Arbeit. Träumt Cenk selten vom Kindergarten? Träumt er von Monstern und davon, dass er fällt, ohne aufzukommen, oder dass er allein ist?

      Ich hatte ein Herz, ihr könnt euch vorstellen, was damit passiert ist. Das stand an der Wand eines alten, halb verfallenen Hauses in unserem Viertel.

      Cenks Augen bewegen sich unter den Lidern. Ich sehe ihn nur, wenn er mit mir und Esra zusammen ist. Ich weiß nicht, wie er im Kindergarten ist. Ich weiß nicht, wie er mit anderen Kindern ist. Esra sieht mich, wenn ich mit ihr Tee trinke oder im Treppenhaus. Ich erzähle ihr nie von den Fragen der Kollegen. Ich erzähle von unserem Viertel und wie ich Geld nach Hause schicke. Ich erzähle von den Menschen, mit denen mich etwas verbindet. Mit denen ich einen Kontakt über den Mund habe, mit allen habe ich Küsse getauscht.

      Was macht Cenk im Kindergarten? Wie ist er dort? Glauben die Erzieher auch so wie ich, dass er ein glückliches Kind ist? Mit wem kann er spielen, wenn er nicht redet?

      Vielleicht spricht Cenk kein Deutsch, weil er noch nie einen Kuss bekommen hat von jemandem, der Deutsch spricht. Doch deswegen muss niemand zu einem Arzt für den Kopf, es ist nicht der Kopf, der falsch ist, es sind nur die Herzen, die keinen Weg zum Mund finden.

      Cenk stöhnt im Schlaf und ich streiche ihm über das Haar:

      – Sch, du träumst nur, sage ich auf Deutsch und dann küsse ich ihn auf die Wange.

       IN GUMMISTIEFELN

      – Du glaubst nicht wirklich, dass Außerirdische die gemacht haben, oder?

      – Nein, sagte ich, das glaube ich nicht. Ich sage nur: Es ist möglich.

      Ein Stück trockenes Holz knackte unter dem Rad meiner Schubkarre.

      – Es ist längst bewiesen, dass die alle von Menschen gemacht wurden. Zwei Engländer haben zugegeben, dass sie das waren mit den Kornkreisen. Das kann jeder nachlesen. Den einen hat seine Frau verdächtigt, er hätte eine Affäre, weil er sich über Nacht rausschlich, und deshalb hat er ihr gestanden, was er da macht. Aber die Menschen ziehen ja vor, ihr Weltbild nicht von Fakten umschmeißen zu lassen, insbesondere die mit den spirituellen Meisen.

      Meine Arme waren schon zerstochen, aber auf Dani war offensichtlich noch keine Mücke gelandet.

      – Aber Rationalisten wollen ihr Weltbild doch auch nicht umschmeißen lassen. Sie wollen weiterhin glauben, dass alles irgendwann vom Verstand erfasst werden wird, auch wenn es keinerlei Hinweise darauf gibt, dass das möglich sein könnte. Sie sind wie Leute, die glauben, man würde eine Melodie verstehen, wenn man sie Ton für Ton durchanalysiert. Dabei lebt die Melodie ja vom Zusammenspiel.

      Das Rad meiner Karre blockierte plötzlich, ich schrammte mir das Schienbein am Blech auf. Es ging leicht bergauf, ich ließ die Karre etwas zurückrollen und versuchte dann, mit Schwung über die Erhebung zu kommen. Auch beim zweiten Versuch blockierte das Rad und ich schrammte mir das andere Schienbein auf. Ich nahm zwei Schritte Anlauf und versuchte es etwas weiter rechts.

      Dani war mittlerweile aus dem Lichtkreis meiner Stirnleuchte verschwunden. Mein T-Shirt klebte mir am Rücken, es war eine ausgesprochen warme Nacht und ich fragte mich, wovon sich die Mücken ernährten,