Die Musik auf den Dächern. Selim Özdogan. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Selim Özdogan
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783960542636
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kannte ihn, ich kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass er keinen Roman schreiben würde.

      Doch ab diesem Tag erzählten mir die unterschiedlichsten Leute, dass Arbër an einem Roman arbeitete. Der wird schon wissen, warum er ausgerechnet mir nichts davon erzählt, dachte ich.

      Ich kannte das von Romananfängen, die mir Menschen zum Lesen gaben und die mir sogar gefielen, aber dann war der Mensch nicht in der Lage, den Roman auch zu Ende zu bringen. Es mangelte ihm an Durchhaltevermögen, an Kraft, an Konzentration, an Disziplin, was auch immer.

      Als ich an einem Nachmittag eine Szene zum fünften Mal umgeschrieben hatte und sie mir immer noch nicht gefiel, gab ich auf, ging raus, eine Runde drehen. Arbër stand vor Aris Kiosk, und ich konnte eine Portion gute Laune gebrauchen.

      Eine halbe Stunde später saßen wir bei ihm, er hatte kein Gras einstecken gehabt und wir hatten beide Lust zu rauchen.

      – Arbër, die Leute erzählen, du würdest an einem Roman arbeiten, sagte ich, während er baute. Vielleicht, weil ich immer noch schlechte Laune hatte und ihn ein wenig in Verlegenheit bringen wollte.

      – Das stimmt, abi, sagte er. Es war Stolz in seiner Stimme. Nicht, dass ich dir Konkurrenz machen möchte, abi, schob er hinterher.

      Er sagte immer abi zu mir, was auf Türkisch großer Bruder heißt. Immerhin war ich über zwanzig Jahre älter als er.

      – Worüber schreibst du denn?

      – Über das Viertel, über die Leute hier, über mein Leben.

      – Hast du denn schon etwas, was man lesen kann?

      – Ja.

      – Darf ich mal sehen?

      – Klar.

      Er drehte inside out. Die Klebekante lag außen, er leckte an der Stelle, an der er das Blättchen über die Klebekante gelegt hatte, und verbrannte dann den überstehenden Teil, legte den Joint auf den Tisch, stand auf und stellte sich neben den Teppich, auf dem der Couchtisch stand. Er bückte sich runter, hob eine Ecke des Teppichs und zog drei Blätter hervor, die er mir grinsend gab.

      Drei Blätter, weiß, unliniert und beidseitig eng mit Kuli beschrieben. Also bestenfalls sieben oder acht Buchseiten. Und ich kannte ihn. Vergiss es, dachte ich, vergiss es, das wird nie was. Aber ist ja nicht schlimm, muss ja nicht jeder ein Schriftsteller werden.

      Dieses Bild, wie er vom Teppich runtergeht, wie er sich bückt, wie er diese drei Blätter hervorholt. Ich habe es oft vor mir gesehen, wenn ich an Arbër gedacht habe.

      Ich überflog die Seiten, sie schienen mir gut geschrieben, aber ich glaubte nicht, dass daraus ein Buch werden würde.

      Es war nicht so, dass ich Arbër in nächster Zeit weniger häufig in den Straßen des Viertels gesehen hätte. Monatelang dachte ich nicht mehr an diese drei Seiten. Ich fragte Arbër auch nie, wie es mit dem Schreiben lief, weil ich ihm ersparen wollte, mir zu erzählen, dass es immer noch nicht mehr war als diese drei Seiten.

      Es war etwas mehr als ein Jahr später, als er mir erzählte, dass er jetzt einen Vertrag unterschrieben hatte, bei einem angesehenen Verlag, dessen Programmleiterin er eines Abends im Rosenfeld beim Cocktail kennengelernt hatte.

      Ich beglückwünschte ihn und bot ihm Hilfe an, falls er welche brauchen sollte. Ein Angebot, auf das er nie zurückkam und das mir peinlich wurde, während die Dinge sich weiterentwickelten.

      Bevor mein erstes Buch veröffentlicht wurde, hatte mir der Verleger geraten, ein deutsches Pseudonym zu wählen, weil in meinem Roman keine Ausländer vorkamen und ich keines der üblichen Migrationsthemen bearbeitete. Die Diskrepanz zwischen Autorenname und Thema könnte den Leser verwirren, war sein Argument.

      Das war Anfang der 90er gewesen, jetzt lagen die Dinge anders. Der Verlag wollte nicht, dass Arbër unter einem Pseudonym veröffentlichte, er aber schon.

      – Ich will nicht, dass Arbër Bozhdaraj auf dem Cover steht, sagte er, der Name hat mir schon genug Probleme gemacht. Und Albaner, da glauben die Leute gleich, sie wissen etwas über dich. Nein, reicht, wenn der Name in meinem Pass steht, ich will ihn nicht auch noch auf dem Cover.

      Den Rest kann man auf Wikipedia lesen, wenn man möchte: 250.000 verkaufte Exemplare in Deutschland, Übersetzungen in zwölf Sprachen, Lesungen, Einladungen zu Talkshows, in denen er genauso charmant, locker und mitreißend war wie an der Straßenecke.

      Über zwei Jahre lang schien es so, als hätte er das Viertel erweitert. Er lief einfach als jedermanns Liebling durch den Literaturbetrieb. Vielleicht merkte er, dass er eine Art Hofnarr war, eine Unterhaltung, eine Abwechslung, ein Farbklecks. Vielleicht merkte er, dass seine Art zu reden ihm nicht nur Respekt einbrachte, sondern auch Verwunderung und Voyeurismus. Wie konnte jemand, der so einfach und streckenweise grammatikalisch falsch sprach, so ein Buch geschrieben haben? Wie konnte jemand, der einem wie ein fröhlicher Dampfplauderer erschien, so viel Tiefe in seine Figuren legen? Wie konnte er den Menschen so nahe sein, wie konnte er sie so genau beobachten, obwohl er so gerne redete? Wie konnte jemand, dem es so offensichtlich an Allgemeinbildung mangelte, ein so vielschichtiges Buch als Debüt hinlegen?

      Bisher hatte der Proll im Literaturbetrieb immer auch etwas Dreckiges gehabt, irgendetwas mit Gewalt, Drogen, Prostituierten, Verwahrlosung, doch Arbër war einfach nur einer, der sich überall frei bewegen konnte und dessen Emotionen immer echt wirkten. Der keine der üblichen Geschichten erzählte, weil ihn nicht ein Milieu faszinierte, sondern die Menschen, die darin lebten.

      Da ist Neid unter Schriftstellern, vor allem, wenn es um Anerkennung und Verkaufszahlen geht. Doch Arbër gönnte ich jeden Erfolg. Ich dachte an diese drei Seiten und wie völlig falsch ich mit meiner Einschätzung gelegen hatte. Und wie oft ich wohl noch falsch lag.

      Wir wollen geliebt werden. Wir wollen das Gefühl haben, dass wir etwas wert sind, dass wir etwas Besonderes sind. Wir wollen keine langweiligen Menschen sein. Wir sind süchtig nach Aufmerksamkeit.

      Vielleicht trieb Arbër sich deswegen so gerne im Viertel herum. Alle kannten ihn, fast alle mochten ihn, fast alle hörten ihn gerne reden. Aber irgendwie reichte das nicht.

      Wir wussten alle, dass sein Vater gestorben war, als er zehn war. Er sprach oft genug darüber, dass er ihn immer noch vermisste. Vielleicht versuchte er, die Lücke zu füllen, die dieser Tod in ihm hinterlassen hatte. Eddie Izzard erzählt in der Dokumentation über sich: Ich glaube, wenn ich nur genug tue, wird eines Tages meine Mutter zurückkommen.

      Es ist nie genug. Die Toten kehren nicht zurück.

      Es ist nie genug. Die Aufmerksamkeit der anderen lässt die eigenen Dämonen nicht verschwinden.

      Es ist nie genug. Jeder, der in die Öffentlichkeit geht und Applaus dafür erwartet, könnte das wissen. Der Applaus fügt dir nichts hinzu. Ein Talent zu haben wertet dich nicht auf.

      Genauso wenig wie eine Tätowierung, ein Piercing, ein neuer Haarschnitt oder ein Paar Schuhe. Genauso wenig wie ein muskulöser Körper oder ein Zweithaus in der Karibik.

      Es ist nie genug. Und Neid entsteht vielleicht dann, wenn man glaubt, der andere hätte genug. Aber er hat nicht genug.

      Vielleicht ist Arbër das bewusst geworden, als er immer mehr Aufmerksamkeit bekam. Vielleicht hat es aber auch mit dieser Geschichte zu tun, die ich nie aus seinem Mund gehört habe. Er hat nicht darüber gesprochen, was man als Beweis dafür werten könnte, dass die Vorwürfe berechtigt waren. Andererseits hat Arbër aber auch nicht mehr über den Roman gesprochen, bis er schließlich fertig war. Auch nicht mit den anderen.

      Auf einem Empfang soll er betrunken der Redakteurin einer großen Zeitung Avancen gemacht haben. Dafür, dass sie ihm eine deutliche Abfuhr erteilte, gibt es Zeugen. Dafür, dass er sie später, nachdem sie vor ihrem Hotel aus dem Taxi gestiegen war, in eine Ecke gezogen und verprügelt haben soll, gibt es keine Zeugen. Ihre Aussage gegen seine. Sie war geschlagen worden, das war deutlich zu sehen auf ihrem Twitterselfie und wurde vom Mediziner bestätigt. Hämatome, Prellungen im Gesicht, Prellungen der Rippen, vermutlich hervorgerufen durch Tritte, ein abgebrochener Schneidezahn.