Zugänge zur Literaturtheorie. 17 Modellanalysen zu E.T.A. Hoffmanns "Der Sandmann". Группа авторов. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

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Издательство: Bookwire
Серия: Reclams Studienbuch Germanistik
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783159611723
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von Wolfgang Frier / Gerd Labroisse: Amsterdam 1979. S. 279–309.

      Schutte, Jürgen: Einführung in die Literaturinterpretation. Stuttgart 1990.

      Sexl, Martin (Hrsg.): Einführung in die Literaturtheorie. Wien 2004.

      Simons, Oliver: Literaturtheorien zur Einführung. 2., vollst. überarb. Aufl. Hamburg 2014.

      Solms, Wilhelm: Die Methodologisierung der Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaft heute. Hrsg. von Friedrich Nemec / W. S. München 1979. S. 9–50.

      Spree, Axel: Kritik der Interpretation. Analytische Untersuchungen zu interpretationskritischen Literaturtheorien. Paderborn 1995.

      Stiegler, Bernd: Theorien der Literatur- und Kulturwissenschaften. Paderborn 2015.

      Strelka, Joseph P.: Methodologie der Literaturwissenschaft. Tübingen 1978.

      Turk, Horst (Hrsg.): Klassiker der Literaturtheorie. Von Boileau bis Barthes. München 1979.

      Urbich, Jan: Literarische Ästhetik. Wien/Köln/Weimar 2011.

      Vollhardt, Friedrich: Text und Kontext oder: gibt es Neuigkeiten zum Gültigkeitskriterium von Interpretationen? In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 65 (2015) H. 1. S. 31–42.

      Wellbery, David E. (Hrsg.): Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists »Das Erdbeben in Chili«. 2. Aufl. München 1987.

      Wellek, René / Austin Warren: Theorie der Literatur. Frankfurt a. M. 1971. Neuaufl. 1985.

      Werber, Niels: Es gibt keine Literatur – ohne Literaturwissenschaft. In: Perspektiven der Germanistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem. Hrsg. von Anne Bentfeld / Walter Delabar. Opladen 1997. S. 176–194.

      Zima, Peter V.: Literarische Ästhetik. Methoden und Modelle der Literaturwissenschaft. 2., überarb. Aufl. Tübingen 1995.

      – Literaturtheorie. In: Fischer Lexikon Literatur. Hrsg. von Ulfert Ricklefs. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1996. S. 1118–1155.

      HERMENEUTIK

      Über die Grenzen des Verstehens und die Gefahren ihrer Missachtung

      Von Gideon Stiening

      I Literarische Hermeneutik als Explizieren der impliziten Kohärenzbildung von Literatur

      Hermeneutik kann man als die Kunst des Verstehens und Interpretierens von Texten und Zeichen, literarische Hermeneutik dagegen als Befähigung zum Verstehen und Interpretieren literarischer Texte definieren. Dabei gilt das Verstehen als unmittelbare Verständigung über die Bedeutung eines Zeichens oder von Zeichengruppen und die Interpretation als Mittel, auftretende Unklarheiten im Verstehensprozess zu beseitigen.3

      In der Antike wurde damit begonnen, Texte von besonderer Bedeutung in diesem Sinne auszulegen, etwa die Dichtungen Homers oder die Werke Platons und Aristoteles’. Seit dem Spätmittelalter wurde auch die Bibel stets neu interpretiert und kommentiert, und zwar indem man etwa deren sogenannten mehrfachen Schriftsinn zu verstehen suchte.4 Bis in die Frühe Neuzeit bildeten sich so unterschiedliche Formen und Disziplinen der Kunst des Interpretierens heraus, so die philosophische, literarische, juristische oder die theologische Hermeneutik. Grundlegende Neuerungen erfuhr die Hermeneutik durch die Reformation. Martin Luther (1483–1546) wandte gegen die allegorische Interpretation unter Bezug auf Autoritäten das sola scriptura-Prinzip, nach dem die Bibel ihr eigener Interpret sei. Die ›Heilige Schrift‹ bedürfe als Schöpfungswort keiner auslegenden Unterstützung durch den Menschen.

      Eine deutliche Unterscheidung zwischen der Theorie und der Praxis des Interpretierens leistet das 18. Jahrhundert, u. a. durch Georg Friedrich Meiers (1718–1777) Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst. Meier entwarf und begründete hierin das Prinzip der hermeneutischen Billigkeit und die Berücksichtigung der Autorintention, die vollständig rational zu rekonstruieren sei. Friedrich Schleiermacher (1769–1834) wurde in der Folge der Gründervater der modernen Hermeneutik: Er entwickelte eine Konzeption, die von der grundlegenden Begrenztheit allen Interpretierens ausging. Schleiermacher erkannte, dass das Verstehen jeder Rede sowohl den grammatischen als auch den psychologischen Aspekt der Sprache zu berücksichtigen habe: Sprachliche Allgemeinheit und psychologische Individualität der Autorintention gehen in jeder Rede eine innige Verbindung ein, die es zu entschlüsseln gilt. Dabei kann der Interpret zu Einsichten gelangen, die das Werk besser erklären, als der Autor sein Werk selbst erklären kann. Wilhelm Dilthey (1833–1911) erklärte auf dieser Grundlage die Hermeneutik als grundlegende Methode aller Geisteswissenschaften: Es gehe in den Geisteswissenschaften um das Kunstwerk, um ein »Sich-Hineinversetzen, Nachbilden, Nacherleben«.

      Martin Heidegger (1889–1976) und Hans-Georg Gadamer (1900–2002) gaben der Hermeneutik im 20. Jahrhundert eine grundlegend neue Bedeutung; in ihren Philosophien gilt das Verstehen als allgemeines Weltverhältnis des Menschen; hier löst sich die Hermeneutik vollständig von einer Theorie des verstehenden Textbezuges.

      Versteht man literarische Hermeneutik allerdings im oben genannten Sinne als Kunst der Verstehens und Interpretierens eines literarischen Textes, so scheint E. T. A. Hoffmanns Erzählung an diese Herangehensweise besondere Anforderungen zu stellen. Die Forschung ist sich nämlich darüber einig, dass sich Der Sandmann »eindeutigen Sinnzuweisungen« (Drux 2014, 63) entzieht. Dieser Befund gilt nicht nur für das unmittelbare Verständnis durch einfache Lektüre; er soll auch für jede methodisch geordnete Interpretation gelten, und zwar sowohl im Hinblick auf einzelne Passagen und Motive als auch hinsichtlich der ganzen Erzählung.

      Neuere Forschung zur literarischen Hermeneutik, die eine enge Verbindung zwischen den Verfahren des Interpretierens und einer allgemeinen Literaturtheorie herstellt, konnte allerdings zeigen (Kablitz 2013, 149 ff.), dass jeder literarische Text, auch jener mit scheinbaren semantischen Leerstellen, zu einer impliziten Kohärenzbildung tendiert, die eine jede Interpretation zu rekonstruieren hat und dies auch kann. Implizite Kohärenzbildung bedeutet in diesem Zusammenhang, dass jeder literarische Text eine semantische Einheit ausbildet, die im Prozess der Interpretation herauszuarbeiten bzw. zu explizieren ist. Unklaren Stellen kommen in diesem Kontext bestimmbare Funktionen zu, weil »die Annahme impliziter Kohärenzbildung als strukturbildendem Merkmal poetischer Rede […] so etwas wie eine regulative Idee im Umgang mit Literatur« bildet (ebd., 199). Literarische Texte bilden also mit Notwendigkeit in sich differenzierte semantische Einheiten aus, die der Interpret explizieren kann und muss, weil die Hermeneutik nicht nur von einer grundsätzlichen Möglichkeit der Interpretation des literarischen Textes ausgeht, sondern davon, dass der Text einer Interpretation bedarf, also die Notwendigkeit einer Interpretation behauptet. Tatsächlich lässt sich an der Textgenese des Sandmanns nachweisen, dass Hoffmann bestimmte Handlungselemente noch für die Druckfassung bewusst verunklarte. Nicht zuletzt aus diesem Grunde hat das Problem der Uneindeutigkeit als konstitutives Moment eines kohärenten Sinns der Erzählung zu gelten.

      Obwohl zumindest ein Zielpunkt, bilden den Ausgangspunkt einer jeden Interpretation literarischer Texte dennoch keineswegs die unmittelbaren oder mittelbaren Unklarheiten. Vielmehr kann sie von den formalen und inhaltlichen Eigentümlichkeiten des Textes ausgehen, die problemlos erkennbar sind, und im Prozess ihrer allmählichen begrifflichen Erfassung deren spezifisch poetische Vermittlung bestimmen. Interpretationen versuchen also, die einzelnen Teile des Textes, deren Verhältnis zueinander und bei der Vermittlung zum gehaltlichen Ganzen zu bestimmen. Das Ziel solcher Deutung besteht in der Bestimmung jenes allgemeinen Aussagegehaltes, den Literatur – anders als die das empirisch Besondere rekonstruierende Geschichtsschreibung – gestaltet. Dabei kann sich der Interpret durchaus unterschiedlicher Methoden bedienen.

      II Zwischen brieflicher Narration und heterodiegetischem Erzähler

      Eine der auffälligsten formalen Besonderheiten des Sandmanns besteht in seiner Kombination unterschiedlicher Erzählformen. Der Text beginnt – ohne jede Vorrede – mit der Präsentation dreier Briefe, die die Vorgeschichte sowie die Exposition der nachfolgenden Handlung darlegen. Hoffmann bedient sich mit diesem Beginn der seit Richardsons Clarissa,