Daran lässt sich ablesen, dass sich das gesamte Feld einer Grundlagenforschung der Literaturwissenschaft in den letzten Jahrzehnten und Jahren stark gewandelt hat. Das Schwergewicht verlagert sich von der Methodologisierung zur Literaturtheorievon der Methodologisierung auf die Literaturtheorie, also weg von der Frage, wie man einen literarischen Text analysiert oder interpretiert, hin zu der Frage, wie man denn überhaupt bestimmen kann, was ein literarischer Text sei und insbesondere welche Kontexte dabei heranzuziehen seien. Beide Fragen kann man analytisch voneinander trennen, doch in der Praxis gehören sie zusammen, wie ungleichgewichtig die Schwerpunkte auch verteilt sein mögen.
Neuere literaturtheoretische Positionen wollen keine Interpretationstheorie mehr sein und verlegen sich daher auch nicht auf eine methodische Reflexion des Umgangs mit Texten. Eine Gelenkstelle nimmt sicherlich die Dekonstruktion ein, weil die Ansätze, die unter diesem Namen firmieren (Derrida und Paul de Man) am entschiedensten methodische Festlegungen unterlaufen wollten, dazu aber immer noch das Begriffsinventarium von Methoden verwendeten; der ZeichenbegriffZeichenbegriff und seine Wandlung vom Strukturalismus (Identität von Bezeichnendem und Bezeichnetem) zu Poststrukturalismus/Dekonstruktion (Differenz von Bezeichnendem und Bezeichnetem) mag dies besonders sinnfällig werden lassen. Daher ist es nicht ungerechtfertigt, der Dekonstruktion auch ein methodisches Problembewusstsein zu unterstellen, und zwar auch und gerade dort, wo sich ihre Positionen einer Methodologisierung verweigerten. Neuere Positionen nutzen das Potential einer dekonstruktiven Literaturtheorie, also Literatur immer wieder neu zu bestimmen, ohne dabei dies methodische Problembewusstsein mitzuführen. Man könnte in diesen Fällen von einem vergessenen Erbe der Dekonstruktion sprechen.
Welche Bedeutung hat der Kontext?
Es lässt sich eine Geschichte der Literaturwissenschaft erzählen, die an die Stelle der Methodendiskussion der 1970er und 1980er Jahre in den 1990er und 2000er Jahren immer neue KontextKontextualisierungen gestellt hat, die häufig als Wenden bzw. Turns gekennzeichnet wurden (Bachmann-Medick 2006). Dabei werden Kontexte erschlossen, um über diese neue Zugänge zum Text zu eröffnen. Fachgeschichtlich beispielgebend ist sicherlich der New Historicism. Denn wie er die literarischen Texte neu zum Sprechen bringt, das lässt sich als grundlegendes Modell nahezu allen konkreten, neueren literaturtheoretischen Positionen unterstellen und kann als Beschreibungsmodell auch auf ältere Positionen rückwirkend angewendet werden.
Das zentrale Konzept dabei ist wie gesagt das des Kontextes. Stellt Literaturtheorie die Frage, was denn ein literarischer Text sei, so ließen sich entsprechend dieser Idee alle Antworten auf die Frage auf ein Grundmodell zurückführen, das besagt, dass ein Text konstitutiv auf seinen Kontext zurückzuführen sei oder dass ein Text durch seinen Kontext regelrecht konstituiert würde. Diese Idee ist nicht neu und wurde neben dem New Historicism auch schon von einigen anderen differenztheoretischen Modellen angewendet, die darauf beruhen, den Text immer in Differenz zu etwas außerhalb des Textes zu setzen. In verallgemeinerter Form würde das heißen: Literaturtheorie definiert erstens den Text über seinen Kontext, und die Entwicklung der Literaturtheorie lässt sich zweitens beschreiben als eine Folge von Ansätzen, in denen immer wieder neue Kontexte für den Text namhaft gemacht wurden (vgl. Jahraus 2007 und 2014). Aus dem Verhältnis von Text und Kontext wird die Gültigkeit der Interpretation abgeleitet (vgl. Vollhardt 2015).
Natürlich hat dieses Unterfangen weitreichende texttheoretische Konsequenzen, die in den einzelnen Positionen unterschiedlich stark reflektiert wurden. Denn Text und Kontext stehen in einem dynamischen Verhältnis zueinander, das immer wieder neu justiert werden muss. So kommt es etwa darauf an, ob andere Kontexte selbst textförmig sind oder einen völlig anderen Status als die literarischen Texte haben. Denn dies wirft die Frage auf, wie man denn dann das Verhältnis zwischen Text und nicht-textuellem Kontext überhaupt noch herstellen kann. Umgekehrt – und hier erweist sich die Literaturtheorie als ungemein produktiv, ja, sie geht sogar in eine allgemeine Medien- und/oder Kulturtheorie über – kann die Bestimmung des Textes durch den Kontext auch auf den Kontext zurückwirken. Dies kann nämlich dann geschehen, wenn eine solche Bestimmung die Textualität des KontextesTextualität des Kontextes sichtbar werden lässt, wenn zum Beispiel die kulturelle Bestimmung und Konstitution des Textes dazu führt, dass nunmehr die Kultur in ihrer TextualitätKultur in ihrer Textualität (vgl. Bachmann-Medick 2004) erkannt werden kann oder sogar vorausgesetzt werden muss.
So problematisch solche Kontextualisierungen für den Text im Einzelnen auch sein mögen – und die einzelnen Beiträge werden diese Probleme in unterschiedlicher Form immer wieder aufgreifen –, so ergiebig ist dieses Modell dann, wenn man es zur Beschreibung der Entwicklung literaturtheoretischer Positionen selbst verwendet. Darüber hinaus kann man in einer solchen Beschreibung auch ein Instrument zur Evaluation neuer(er) literaturtheoretischer VersucheEvaluation neuer(er) literaturtheoretischer Versuche sehen, andere Kontexte für die Literatur zu rekrutieren. Man muss sich dabei jedoch immer vor Augen halten, dass es nicht ausreicht, Literatur lediglich in andere Kontexte zu stellen. Wie immer man das Verhältnis einer Position zur Literatur beschreiben will (ob sie wissenschaftlich ist oder gerade den wissenschaftlichen Bezug verneint, ob sie Literatur analysiert oder interpretiert oder aber Analyse und/oder Interpretation in Abrede stellt), wie immer sie Literatur bestimmt, sei es mit literaturimmanenten oder mit literaturfremden Kriterien, so ist doch eines nicht zu leugnen und für jede Position unhintergehbar: Sie bezieht sich immer, wenn nicht auf die Sache, so doch auf den Begriff der Literatur. Und insofern muss sie wiederum unseren Bezug auf das (unseren Zugang zu dem – unseren Umgang mit dem), was Literatur ist oder heißt, erweitern, auf eine neue Grundlage stellen, bereichern.
Wenn dies über den Weg geschieht, neue Kontexte für Texte bereitzustellen, dann müssen diese Kontexte unseren Bezug, unseren Zugang, unseren Umgang verändern und verbessern. Das meint nicht allein eine oberflächliche methodische interpretatorische Verwertung, sondern meint vielmehr einen speziell literaturtheoretischen Beitrag. Solche Kontextualisierungen müssen also auch zu einem literaturtheoretisch reicheren Konzept des literarischen Textes selbst führen, indem sie auch aus literaturwissenschaftlicher Sicht deutlich machen, was solche Kontextualisierungen über das, was Literatur ist oder heißt, selbst aussagen können.
Wie präsentiert sich Literaturtheorie heute?
In der Methodendiskussion kam es darauf an, verschiedene Positionen in Konkurrenz miteinander zu sehen: ein Streit der Interpretationen»Streit der Interpretationen« (vgl. Eco 1987). Ein solches Konkurrenzverhältnis war nur mit möglichst gleichgearteten Positionen denkbar, also mit Positionen, die sich allesamt derselben Frage nach der Analyse/Interpretation des literarischen Textes verschrieben haben.
Ein Blick auf die Liste von Positionen, die der vorliegende Band präsentiert, zeigt schon an, wie unterschiedlich hier die Positionierungen sind, wie unterschiedlich der konzeptionelle Boden ist, auf den sich diese Positionen jeweils stützen. Neben den erwähnten ›Klassikern‹ finden sich jüngere methodologische Positionen, die eher beim Textbegriff ansetzen (Intertextualität, Ethnographie der Literatur) oder aber auf andere Grundlagentheorien (oder, wie es im Englischen heißt: studies) referieren (Soziologien, Anthropologien, Visual, Gender, Queer Studies), und dazu gehören sicherlich auch die Biopoetik und die Raumtheorie für die Literatur. Der unterschiedliche methodologische Status der Positionen, die dieser Band versammelt, ist also nicht das Produkt einer unsystematischen Sammlung, nicht der Effekt einer unsystematischen Wissenschaft, sondern vielmehr der wissenschaftsgeschichtliche Ausdruck ihrer FachgeschichteFachgeschichte und der veränderten Rahmenbedingungen ihrer Theoriebildungsprozesse.
Warum E. T. A. Hoffmann? Zur Wahl des Textes
Es finden sich eine Reihe von Publikationen, die das Problem der Interpretation oder den Streit der Interpretationen an Kafka abhandeln (Bogdal 1993; Els 1994; Jahraus/Neuhaus 2002). Warum liegt diesem Band nun ein – aber vielleicht auch der bekannteste – Text von E. T. A. Hoffmann zugrunde? Diese Wahl hängt gleichermaßen direkt mit jenen Veränderungen zusammen, die schon an den Unterschieden im theoretischen Status der einzelnen vorgestellten Positionen deutlich wurden und die allesamt eine stärkere Gewichtsverlagerung von der Methodik und Methodologie zur Literaturtheorie in den letzten Jahrzehnten