Nathanael erwachte wie aus schwerem, fürchterlichem Traum, er schlug die Augen auf und fühlte wie ein unbeschreibliches Wonnegefühl mit sanfter himmlischer [40] Wärme ihn durchströmte. Er lag in seinem Zimmer in des Vater Hause auf dem Bette, Clara hatte sich über ihn hingebeugt und unfern standen die Mutter und Lothar. »Endlich, endlich, o mein herzlieber Nathanael – nun bist du genesen von schwerer Krankheit – nun bist du wieder mein!« – So sprach Clara recht aus tiefer Seele und fasste den Nathanael in ihre Arme. Aber dem quollen vor lauter Wehmut und Entzücken die hellen glühenden Tränen aus den Augen und er stöhnte tief auf: »Meine – meine Clara!« – Siegmund, der getreulich ausgeharrt bei dem Freunde in großer Not, trat herein. Nathanael reichte ihm die Hand: »Du treuer Bruder hast mich doch nicht verlassen.« – Jede Spur des Wahnsinns war verschwunden, bald erkräftigte sich Nathanael in der sorglichen Pflege der Mutter, der Geliebten, der Freunde. Das Glück war unterdessen in das Haus eingekehrt; denn ein alter karger Oheim, von dem niemand etwas gehofft, war gestorben und hatte der Mutter nebst einem nicht unbedeutenden Vermögen ein Gütchen in einer angenehmen Gegend unfern der Stadt hinterlassen. Dort wollten sie hinziehen, die Mutter, Nathanael mit seiner Clara, die er nun zu heiraten gedachte, und Lothar. Nathanael war milder, kindlicher geworden, als er je gewesen und erkannte nun erst recht Claras himmlisch reines, herrliches Gemüt. Niemand erinnerte ihn auch nur durch den leisesten Anklang an die Vergangenheit. Nur, als Siegmund von ihm schied, sprach Nathanael: »Bei Gott Bruder! ich war auf schlimmen Wege, aber zu rechter Zeit leitete mich ein Engel auf den lichten Pfad! – Ach es war ja Clara! –« Siegmund ließ ihn nicht weiter reden, aus Besorgnis, tief verletzende Erinnerungen möchten ihm zu hell und flammend aufgehen. – Es war an der Zeit, dass die vier glücklichen Menschen nach dem Gütchen ziehen wollten. Zur Mittagsstunde gingen sie durch die Straßen der Stadt. Sie hatten manches eingekauft, der hohe Ratsturm warf seinen Riesenschatten über den Markt. »Ei!« sagte Clara, »steigen wir doch noch einmal herauf und schauen in das ferne Gebirge hinein!« Gesagt, [41] getan! Beide, Nathanael und Clara, stiegen herauf, die Mutter ging mit der Dienstmagd nach Hause, und Lothar, nicht geneigt, die vielen Stufen zu erklettern, wollte unten warten. Da standen die beiden Liebenden Arm in Arm auf der höchsten Galerie des Turmes und schauten hinein in die duftigen Waldungen, hinter denen das blaue Gebirge, wie eine Riesenstadt, sich erhob.
»Sieh doch den sonderbaren kleinen grauen Busch, der ordentlich auf uns los zu schreiten scheint«, frug Clara. – Nathanael fasste mechanisch nach der Seitentasche; er fand Coppolas Perspektiv, er schaute seitwärts – Clara stand vor dem Glase! – Da zuckte es krampfhaft in seinen Pulsen und Adern – totenbleich starrte er Clara an, aber bald glühten und sprühten Feuerströme durch die rollenden Augen, grässlich brüllte er auf, wie ein gehetztes Tier; dann sprang er hoch in die Lüfte und grausig dazwischen lachend schrie er in schneidendem Ton: »Holzpüppchen dreh dich – Holzpüppchen dreh dich« – und mit gewaltiger Kraft fasste er Clara und wollte sie herabschleudern, aber Clara krallte sich in verzweifelnder Todesangst fest an das Geländer. Lothar hörte den Rasenden toben, er hörte Claras Angstgeschrei, grässliche Ahnung durchflog ihn, er rannte herauf, die Tür der zweiten Treppe war verschlossen – stärker hallte Claras Jammergeschrei. Unsinnig vor Wut und Angst stieß er gegen die Tür, die endlich aufsprang – Matter und matter wurden nun Claras Laute: »Hülfe – rettet – rettet –«, so erstarb die Stimme in den Lüften. »Sie ist hin – ermordet von dem Rasenden«, so schrie Lothar. Auch die Tür zur Galerie war zugeschlagen. – Die Verzweiflung gab ihm Riesenkraft, er sprengte die Tür aus den Angeln. Gott im Himmel – Clara schwebte von dem rasenden Nathanael erfasst über der Galerie in den Lüften – nur mit einer Hand hatte sie noch die Eisenstäbe umklammert. Rasch wie der Blitz erfasste Lothar die Schwester, zog sie hinein, und schlug in demselben Augenblick mit geballter Faust dem Wütenden ins Gesicht, dass er zurückprallte und die Todesbeute fahren ließ.
[42] Lothar rannte herab, die ohnmächtige Schwester in den Armen. – Sie war gerettet. – Nun raste Nathanael herum auf der Galerie und sprang hoch in die Lüfte und schrie: »Feuerkreis dreh dich – Feuerkreis dreh dich« – Die Menschen liefen auf das wilde Geschrei zusammen; unter ihnen ragte riesengroß der Advokat Coppelius hervor, der eben in die Stadt gekommen und gerades Weges nach dem Markt geschritten war. Man wollte herauf, um sich des Rasenden zu bemächtigen, da lachte Coppelius sprechend: »Ha ha – wartet nur, der kommt schon herunter von selbst«, und schaute wie die Übrigen hinauf. Nathanael blieb plötzlich wie erstarrt stehen, er bückte sich herab, wurde den Coppelius gewahr und mit dem gellenden Schrei: »Ha! Sköne Oke – Sköne Oke«, sprang er über das Geländer.
Als Nathanael mit zerschmettertem Kopf auf dem Steinpflaster lag, war Coppelius im Gewühl verschwunden. –
Nach mehreren Jahren will man in einer entfernten Gegend Clara gesehen haben, wie sie mit einem freundlichen Mann, Hand in Hand vor der Türe eines schönen Landhauses saß und vor ihr zwei muntre Knaben spielten. Es wäre daraus zu schließen, dass Clara das ruhige häusliche Glück noch fand, was ihrem heitern lebenslustigen Sinn zusagte und das ihr der im Innern zerrissene Nathanael niemals hätte gewähren können.
Editorische Notiz
Der Text der vorliegenden Ausgabe folgt dem Erstdruck:
Nachtstücke herausgegeben von dem Verfasser der Fantasiestücke in Callots Manier. Erster Theil. Berlin, 1817 [erschienen Ende 1816]. In der Realschulbuchhandlung. [Der Sandmann S. 1−82.]
Die Orthographie wurde auf der Grundlage der gültigen amtlichen Rechtschreibregeln bei Wahrung des Lautstands und sprachlich-stilistischer Eigenheiten behutsam dem heutigen Gebrauch angeglichen. Die Interpunktion blieb gewahrt. Seitenzahlen in eckigen Klammern beziehen sich auf diese Ausgabe.
An folgenden Stellen wurde die Fassung der Druckvorlage nach dem Manuskript Hoffmanns korrigiert:
15,7 f. dunkle psychische Macht] dunkle physische Macht
19,8 Klimax] Climax
22,19 Geheimnisse nicht] Geheimnisse
23,18 f. aufgegangen] aufgefangen
37,8 Puppendreher] Peipendreher
Zwei längere Passagen der Handschrift wurden vor dem Druck gestrichen.
EINLEITUNG
Von der Methodologie zur Literaturtheorie: neue Kontextualisierungen des literarischen Textes
Von Oliver Jahraus
Dieser Band versammelt siebzehn Beiträge zu methodischen und theoretischen Positionen der Literaturwissenschaft und liefert damit einen breiten Überblick über die Grundlagenforschung in der Literaturwissenschaft. Bei der Auswahl der Beiträge kam es darauf an, einen Überblick von den ›klassische‹, neuere und gegenwärtige Ansätze der Literaturwissenschaft›klassischen‹ über die neueren bis zu den gegenwärtigen Ansätzen der Literaturwissenschaft zu bieten. In jedem Beitrag wird eine literaturtheoretische Position vorgestellt, und es wird – am Beispiel von E. T. A. Hoffmanns Novelle Der Sandmann (1816) – gezeigt, welchen Nutzen eine solche Position für unseren Umgang mit dem literarischen Text haben kann.
Es geht hier nicht – überflüssig zu betonen – um ein vollständiges Abbild der Theorieentwicklungen in der Literaturwissenschaft. Ziel dieses Buches und der Vorstellung eines Reigens an Modellinterpretationen ist es, das Spektrum an traditionellen und gegenwärtigen methodischen Zugängen zum literarischen Text zumindest im Ansatz deutlich werden zu lassen. Der Band will in historischer Perspektivierung und systematischer Entfaltung den state of the art einer theoretisch fundierten und methodisch reflektierten Literaturwissenschaft erkennbar werden lassen.
Warum muss man literarische Texte überhaupt interpretieren?
Im Grunde genommen geht dieser Band auf eigene