In mehrsprachigen KontextenMehrsprachigkeit stellt sich die Frage nach dem Bedarf an Wissen oder Kenntnissen mit noch größerer Dringlichkeit, unter anderem, weil die sprachlichen Repertoires von Sprechenden nicht gleichartig gestaltet sind. Annahmen von speech communities (Gumperz 1964), also Gruppen von Sprecher:innen, die regelmäßig über längere Zeiträume in relativ stabilen Zusammenhängen agieren, gingen von relativ geteilten Repertoires aus. Aktuelle Befunde sehen hingegen, dass Sprecher:innen sich in diversen Gesellschaften bewegen und in lokaler Umgebung, ebenso wie über medial vermittelte größere Entfernung Kontakte in verschiedenen Sprachen pflegen und daher Anteil an mehreren communities haben, von denen nur wenige unmittelbar sichtbar sind (Kramsch & Zhu 2020). Im nächsten Abschnitt möchte ich an einigen Beispielen aufzeigen, wie sich mehrsprachiger Kommunikationsbedarf in bestimmten Kontexten zeigt, wissend, dass diese Auswahl niemals der Komplexität menschlicher Lebenswelten entsprechen kann.
3 Kommunikationsbedarf in diversen Gesellschaften – Beispiele aus der Praxis
Forschung zu mehrsprachigen Sprecher:innen geht davon aus, dass die meisten Menschen im Alltag in verschiedenen Sprachen (oder auch Sprachformen einer Sprache) interagieren, sich in mehreren sozialen Räumen bewegen und sich dabei in vielen Bereichen entspannt und gut ausgestattet fühlen. In anderen Bereichen bedarf es jedoch sprachlicher oder kommunikativer Unterstützung, und bisweilen sind diese Interaktionen sogar schambehaftet, etwa wegen als defizitär wahrgenommener sprachlicher Voraussetzungen. Die folgende Auswahl von Kommunikationskontexten gibt demgemäß ein Kontinuum wieder: Es reicht von lebensweltlicher Mehrsprachigkeit in Familien zu Sprachentscheidungen von Gemeinschaften, in denen Minderheiten oder Mehrheitssprachen vertreten sind. In anderen Fällen muss der Zugang zu sprachlichen Ressourcen wieder erworben werden, wie bei ‚verlorenen/verdrängten‘ Kindheitssprachen in Fällen von Traumatisierung. Wiederum anders stellt sich die Situation für Menschen dar, die geflüchtet oder migriert sind, und sich nun in noch neuen sprachlichen Zusammenhängen wiederfinden. Dazwischen bzw. darum gibt es natürlich noch viele andere Kontexte, in denen sprachliches Handeln stattfindet und in denen Anforderungen unterschiedlicher Art an Sprecher:innen gestellt werden.
Manche Kontexte, etwa in der Familie aber auch im Bereich traditioneller Minderheitensprachen, sind wenig prädestiniert für den Einsatz von Dolmetschung. Auch der Einsatz von Sprachen, die als lingua franca verwendet werden können (in Österreich etwa oft Englisch), minimiert etwa im Feld von Journalist:innen und Medien den sichtbaren Bedarf. In anderen hingegen ist der Bedarf von Dolmetschung mit großer Dringlichkeit gegeben: In jedem Fall können wir jedoch davon ausgehen, dass Dolmetschen in komplexen mehrsprachigen Kontexten stattfindet, in denen sich alle Beteiligten ihrer linguistischen Repertoires bedienen, um gemeinsame kommunikative Ziele zu erreichen.
4 Vier Kontexte, viel Kommunikationsbedarf
4.1 Mehrsprachige Familien und lebensweltliche Mehrsprachigkeit
Statistiken in europäischen Ländern, ebenso wie im DACH-Raum, bestätigen, dass nicht nur die Anzahl der verwendeten Sprachen pro Person steigt, sondern auch eine DiversifizierungDiversifizierung der sprachlichen Ressourcen stattfindet. Exemplarisch führen die Zahlen der österreichischen Schulstatistik zu dem Schluss, dass ein Viertel aller Kinder in den Pflichtschulen im Alltag zusätzlich zu Deutsch noch mindestens eine weitere Sprache verwendet (BMB 2017), und ähnliches ist für Deutschland und die Schweiz anzunehmen. Das bedeutet also, dass in Familien mehrsprachige Praktiken an der Tagesordnung sind: in der alltäglichen Kommunikation in der Wohnumgebung, aber auch durch die größere Verfügbarkeit medialer Formate des unmittelbaren Austauschs mit Verwandten und Freund:innen über größere Distanzen. Untersuchungen zu Familiensprachpolitiken zeigen, wie alltäglich sprachliches Handeln in mehr als einer Sprache in Familien verhandelt wird (siehe Special Issues von King & Lanza 2019 oder Lanza & Curdt-Christiansen 2018). Dolmetschung zwischen Familienmitgliedern und externen Personen findet meist durch Familienmitglieder statt und umfasst sowohl Laut- als auch Gebärdensprachen (Johnson 2020).
In den letzten Jahren konnten vor allem auch Studien zur Nutzung von Online-Plattformen oder Kommunikationsapps zeigen, wie die sprachliche Gestaltung von familiären Netzwerken sich in der Diaspora entwickelt (Lexander & Androutsoupoulos 2019). Am Beispiel polnischsprachiger Jugendlicher, die mit ihren Familien nach Norwegen migriert sind, zeigt Obojska (2017), wie die Teenager Englisch, Norwegisch und Polnisch nutzen, um sich in der Familie, aber vor allem auch als Produzent:innen von Videoblogs zu positionieren. Während das Norwegische vor allem durch die Schule sehr schnell die im Alltag relevanteste Sprache wird und das Englische wie in vielen Bereichen als zukunftsweisendes Kommunikationsmittel wahrgenommen wird, erfüllt das Polnische online eine wichtige Rolle (u.a. durch das im Vergleich zum Norwegischen potentiell viel größere polnischsprachige Publikum). Eine der befragten Jugendlichen erlebt sich in diesem Sinn auch als Botschafterin, die für Jugendliche aus Polen aus einem neuen Land berichtet und sich zwar nicht als Dolmetscherin, aber doch als kommunikative Mittlerin erlebt. Kontext und Wissen um das erreichte Publikum spielen dabei auch in virtuellen Räumen wie Foren und Kommentarbereichen noch eine wichtige Rolle (Szabla & Blommaert 2018). Relevant werden die von Deumert (2014) als mobile practices bezeichneten Kommunikationsformen, wenn sie aufgreifen, was Jacquemet (2005) als transidiomatische Praktiken beschrieben und Pennycook mit Sprache als lokal verortete Praxis theoretisiert hat (2010 sowie 2016). Sprecher:innen nutzen ihre mehrsprachigen Ressourcen parallel bzw. wechseln je nach Bedarf zwischen verschiedenen Sprachen, Registern oder Sprachformen. Wunsch und Wirklichkeit sind dabei natürlich nicht immer deckungsgleich, d.h. es ist durchaus wahrscheinlich, dass Sprecher:innen manche ihrer Ressourcen gern öfter nutzen würden, und sich andererseits zur Verwendung anderer eher gezwungen fühlen. Die Möglichkeit, in der eigenen Sprachwahl handlungsfähig zu bleiben (als agency in der Forschung untersucht), ist nicht nur individuell verhandelt, sondern stets auch an soziale Zusammenhänge gebunden. Dieser Bereich soll im nächsten Beispiel beleuchtet werden.
4.2 Veränderungen des Repertoires bei Sprecher:innen von heritage languages
Die linguistischen Repertoires von Sprecher:innen verändern sich über die Zeit, durch individuelle Bewegung, durch Ausbildung oder Beruf und auch aufgrund sozialer Bewertungen verschiedener sprachlicher Ressourcen. Damit befinden sich Sprecher:innen mit ihren Sprachen bisweilen in der Mehrheit (etwa mit Deutsch in Österreich), aber auch manchmal in Situationen, in denen manche ihrer Sprachen Minderheitensprachen darstellen. Der Begriff heritage languages verweist auf das mehrsprachige Spracherleben der Sprecher:innen, das unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer (in einem spezifischen Gebiet rechtlich anerkannten) Gruppe ist. Der Status der Sprachen, etwa die traditionelle Unterteilung in Regional- und Minderheitensprachen (wie etwa Slowenisch in Kärnten und der Steiermark oder Romani im Bundesgebiet) und Migrantensprachen (wie etwa Türkisch oder Polnisch) ist für manche Fragen natürlich nach wie vor relevant, erscheint in der Komplexität des Spracherlebens vielen aber nicht mehr passend. Sprecher:innen des Kärntner Slowenischen sind in Wien etwa nicht als Sprecher:innen einer Minderheitensprache anerkannt. Als Sprecher:innen von heritage languages können also jene bezeichnet werden, die aufgrund ihrer eigenen oder der mehrsprachigen Biographie ihrer Familie mit Sprachen aufwachsen, die nicht die Mehrheitssprache in ihrer Umgebung darstellen. Dabei kann auch Deutsch, etwa in den USA, eine heritage language sein. Die Vielfalt der Sprachen und die Diversität der mehrsprachigen Situationen lassen schon erahnen, dass man sich hier keine homogene Sprecher:innengruppe vorstellen kann – aber auch, dass es keine einfachen Linien zwischen sprachlich homogen imaginierten Gruppen gibt. Sprachwechsel oder auch Spracherhalt, der üblicherweise nicht alle sprachlichen Aspekte, sondern bestimmte Interaktionen und Situationen betrifft,