Endlich, dachte ich und stolperte Richtung Tür. Gefühlt drei Kilo leichter öffnete ich sie nach ein paar Minuten wieder und trat mit erleichtertem Blick hervor. Ich war bereit. Meine Blase war bereit. Jetzt konnte es losgehen.
„Da bist du ja endlich“, sagte meine Mutter, als ich zurück beim Auto war. „Wir dachten schon, du kommst nicht mehr wieder.“ „Hat ein bisschen gedauert“, grinste ich. „Ist den alles in Ordnung bei dir?“, fragte sie besorgt. „Oder ist was mit deinem Magen?“ Prüfend schaute sie mich mit diesem einen Blick an, den jede Mutter draufhat. In der Regel konnte man ihr nichts vormachen. Aber diesmal gab es nichts zu verheimlichen.
„Alles gut, Mama. Wirklich! Mir geht es super.“ Ich ging zum Kofferraum und hievte meinen blauen Koffer auf den Boden. Er hatte schon so manche Reise miterlebt. Zerbeult und zerkratzt stand er auf dem Bürgersteig und wartete, wie es jetzt weitergehen sollte. Mein Vater reichte mir meinen beigen Rucksack, den meine Oma mir gestern für die Reise geschenkt hatte.
„Danke, Papa.“ Ich stülpte ihn auf meinen Rücken und legte das schwarz-grau-karierte Nackenkissen um den Hals. Es hatte eine Massagefunktion, doch die Batterie hatte ich aus Vorsicht zu Hause gelassen. Ich wollte nicht schon wieder aus der Sicherheitskontrolle gewunken werden und mir die Blöße geben. An Silvester hatte schon ein zusammengeknülltes Knoppers-Papier in meiner Jeans dafür ausgereicht. Diesmal hatte ich vorsorglich selbst die kleinste Fluse entfernt. „Hast du alles?“, fragte mich mein Vater. Ich nickte. Jetzt kam der Part, vor dem ich am meisten Respekt hatte. Goodbye zu sagen und von meiner Familie für die nächsten Wochen Abschied zu nehmen. Schon gestern hatte ich einen Kloß im Hals, als meine Oma mir mit Tränen in den Augen an der Tür zuwinkte. Ich musste schlucken, als ich meinen Vater anschaute. Ich nahm ihn in den Arm und versprach ihm wie schon damals vor der Blinddarm-OP, dass ich wiederkommen werde. Er klopfte mir auf die Schulter.
„Hab viel Spaß. Wir sind stolz auf dich!“ Ich ging weiter zu Mama, die neben ihm stand.
„Pass bitte auf dich auf …“
„Ich verspreche es dir, Mama.“ Ich drückte sie ganz fest an mich. So fest hatte ich meine Mama schon lange nicht mehr in den Arm genommen. Es fühlte sich gut an. So vertraut. Ich streichelte ihr mit meiner Hand über den Kopf.
„Melde dich und ruf mal an …“ Ich blickte zu Noah. Er schaute mich an und streckte die Arme zu mir aus. Ich bückte mich zu ihm und hob ihn hoch. „Mach es gut, Pupsi. Und ärgere Paula schön.“ Wie ein Affe klammerte er sich um meinen Hals. Ich küsste ihn auf die Stirn.
„Bring mir was mit“, sagte er, nachdem ich ihn auf dem Bürgersteig abgesetzt hatte. „Vielleicht einen Löwen. So einen kleinen, flauschigen, ja?“
„Ich schaue mal.“ Ich wuschelte ihm durch die Haare. „Bis in vier Wochen.“ Ich ging zu meinem Koffer, klappte den Griff aus und rollte ihn hinter mir her zur Abflughalle. Beim Eingang drehte ich mich noch mal zu meinen Eltern und meinem Bruder um. Sie waren wieder ins Auto gestiegen und winkten, als sie an mir vorbeifuhren. Ich schaute ihnen noch eine Weile nach, bis sie hinter einem Parkhaus nicht mehr zu sehen waren. Jetzt war ich auf mich allein gestellt. Der erste Schritt war gemacht. Das Abenteuer Afrika konnte beginnen …
TRUTHAHN, CHICKEN UND DER KÖNIG DER LÖWEN
(CHAPTER THREE)
„Schöne guete Abig, mini Dame und Herre und es herzlichs Grüezi au no mal vo mir us de Pilotekabine. Min Name isch Franz Huber und zsamme mit minere Crew heiß ich Sie herzlich willkomme an Board. Viele Dank, dass Sie sich uf em Flug vo Düsseldorf nach Züri für Swiss entschiede händ. Mir versuechet, Ihne de Flug so agnähm wie mögli zgestalte. Dä Flug isch öppe mit ere Stund agrächnet. Mir wünschet Ihne en guete Flug und bittet Sie, Ihres Handgepäck unterem Sitz oder i dä dafür vorgsehene Ablageflächi zverstaue.“
Ja Moin. Ich musste innerlich lachen. Ich hatte bis auf den Namen kein Wort verstanden. Wieder meldete sich die Stimme aus dem Lautsprecher im Flugzeug.
„Und jetzt noch einmal für die nicht Schweizerdeutsch sprechenden Passagiere …“
Geht doch, Franz.
„Schönen guten Abend, meine Damen und Herren und ein herzliches Grüezi auch noch mal von mir aus der Pilotenkabine. Mein Name ist Franz Huber und zusammen mit meiner Crew heiß ich sie herzlich willkommen am Bord. Vielen Dank, dass sich auf den Flug von Düsseldorf nach Zürich für Swiss entschieden haben. Wir versuchen, Ihnen den Flug so angenehm wie möglich zu gestalten. Der Flug ist mit einer guten Stunde berechnet. Wir wünschen Ihnen einen guten Flug und bitten Sie, ihr Handgepäck unterm Sitz oder in den dafür vorgesehen Ablageflächen zu verstauen.“
Ich schaute auf meine digitale Uhr, die ich vor ein paar Monaten beim Planspiel Börse gewonnen hatte. 19:55 Uhr leuchtete es auf in weißen Zahlen. Ich freute mich, dass bis jetzt alles nach Plan verlief. Pünktlich setzte sich der Flieger von Swiss in Bewegung und machte sich hinter zwei anderen Fliegern auf dem Weg zur Startbahn. Nein, bis jetzt lief wirklich alles nach Plan. Bei einem Swiss-Schalter hatte ich vorhin meinen Koffer abgegeben. Im Gegenzug überreichte mir die Schweizerdeutsch sprechende blonde Angestellte die Flugtickets. Wie mein Nachbar Wolfgang, der mir an Noahs Geburtstag im Januar noch von seinem Namibia-Urlaub erzählt hatte, staunte sie nicht schlecht, als sie durch ihr System erfuhr, dass ich keinen Direktflug nach Windhoek, der Hauptstadt Namibias, gebucht hatte. Ich zuckte nur lachend mit den Schultern und nahm die drei Tickets dankend entgegen. Jetzt lagen sie gut verstaut in der oberen Tasche meines Rucksacks zwischen den Seiten meines Reisepasses. Bereit, in Zürich und Johannesburg bei den Zwischenstopps rausgekramt zu werden. Vorsichtshalber schaute ich noch mal nach, ob sie noch da waren.
Erleichtert, dass sie immer noch auf meinem Gesicht lagen, schaute ich wieder aus dem kleinen Fenster nach draußen. Das ganze Flughafengebäude war hell beleuchtet. Busse brachten Passagiere zu den wartenden Flugzeugen, während Kleinbusse mit mehreren Anhängern die Koffer hinterherfuhren. Zwischen dem ganzen Gewusel deutete nur der pechschwarze Himmel darauf hin, dass es bereits Nacht war. Ich schaute einige Meter runter zum Boden. Dort entdeckte ich überall Markierungen und Punkte, die in den unterschiedlichsten Farben zu mir aufleuchteten. Ich zückte mein Handy und machte schnell ein paar Fotos. Das Display auf der Kopflehne vor mir leuchtete auf und zeigte in einem einminütigen Video, wie sich eine Frau eine Schwimmweste umlegte und eine Sauerstoffmaske aufsetzte. Digital - wow. Kein Vergleich zu den Sicherheitsanweisungen vorm Abflug nach Hamburg, die zwei Stewardessen mit wilden Handbewegungen im Gang vor allen Fluggästen vorgemacht hatten. Als das Video zu Ende war, gingen mit dem Display auch die Lichter im Flugzeug aus.
„Ready for take off“, hörte ich über die Lautsprecher eine Stimme sagen. Die Triebwerke dröhnten laut auf. Binnen Sekunden beschleunigte Franz das Flugzeug auf mehrere Hundert Stundenkilometer. Die Geschwindigkeit drückte meinen Körper mit voller Wucht in den Sitz, doch anders als an Silvester jagte mir das keinen Schreck ein. Aufgeregt schaute ich aus dem Fenster. Wie ein Gepard eine Gazelle pushte Franz das Flugzeug nach vorne, ehe einige Sekunden später das lang gezogene Gebäude des Düsseldorfer Flughafens immer kleiner wurde, bis es am Boden nicht mehr zu sehen war. Wir flogen eine große Kurve über die Rheinpromenade und den Fernseherturm. Alles kam mir sehr bekannt vor. Vor ein paar Monaten hatte ich dort unten noch neben meinem Fahrrad am Ufer gesessen und Flugzeugen beim Fliegen zugesehen. Jetzt war es umgekehrt und es fühlte sich gut an.
Der Flughafen in Zürich war menschenleer. Gespenstisch leer. Neben meinem Schatten auf dem Gang war nichts los. Es war echt seltsam. Keine Menschenseele war zu dieser Uhrzeit unterwegs. Keine Spur von den Passagieren und Fluggästen, die gerade noch Franz und seinem Co-Piloten nach ihrer sicheren Landung applaudiert hatten. Sie waren wie vom Erdboden verschlungen. Ich hatte das Gefühl, dass ich der Einzige war, der heute noch nach Johannesburg fliegen würde. Ich wunderte mich, dass um neun Uhr bereits alle Geschäfte geschlossen waren. Kein Restaurant, keine Boutique war mehr geöffnet. Kein Vergleich mit dem lebhaften Treiben in der Düsseldorfer Abflughalle,