Mertens überhörte die Frage. Er ging strikt nach dem Ausschlussverfahren vor. „Lass uns das alles noch mal kurz gemeinsam durchgehen.“ Während Hermann Schmidt die Tote rasierte, hob Mertens seine rechte Hand, um die einzelnen Feststellungen mit Daumen und Fingern abzuzählen; in seiner linken hielt er das eingeschaltete Diktiergerät fest umklammert. Klack ... „Fassen wir zusammen. Keine Petechien. Ergo: Sie ist weder erstickt, erwürgt, erdrosselt oder stranguliert worden. Weite Pupillen? Fehlanzeige. Ergo: ABC, also Alkohol, Benzodiazepine, Barbiturate und Cocain, scheiden als Todesursache ebenfalls aus. Halten wir also fest: Keine Hinweise auf eine ABC-Vergiftung. Die Pupillen sind auch nicht eng. Ergo: Morphium, andere Opiate, Heroin oder Nikotin waren offenbar auch nicht im Spiel.“ Klaus Martin unterbrach seinen Chef: „Ähm ... Raucherin dürfte sie gewesen sein. Das sagt uns der Teer, den sie in ihren Lungen hat.“
Mertens grinste. „Ja, da hast du völlig recht, Klaus. Ich meine aber etwas anderes. Wir können davon ausgehen, dass sie nicht eine Zigarette gegessen oder einen Glimmstängel in Wasser aufgelöst und die Lösung getrunken hat. Beides wäre, wie du weißt, absolut tödlich.“
„Das wäre dann Suizid gewesen. Es könnte ihr natürlich auch jemand die Lösung gegen ihren Willen eingeflößt haben. Auch das ist möglich ...“, orakelte er. „Dann hätten wir aber Tabakreste oder braune Flüssigkeit in ihrem Magen finden müssen. Haben wir aber nicht.“
„Stimmt genau“, sagte Mertens und wischte sich mit dem Ärmel seines Kittels ein paar Schweißperlen von der Stirn. „Ihre letzte Mahlzeit bestand aus Pizza-Kräckern, Gouda-Würfeln und Rotwein. Mehr hatte sie nicht im Magen.“ Doktor Martin musterte die Tote. Er kam zu dem Schluss, dass Nadja Stern eine schöne Frau gewesen war. Ihr wachsbleiches Gesicht, ihre blau angelaufenen Lippen und ihre ausdruckslosen Augen konnten darüber nicht hinwegtäuschen. Martin wurde vom Rattern der Schermaschine aus seinen Gedanken gerissen. Mertens hob den Ringfinger. „Viertens ... Als sie gestern auf unserem Tisch lag, hatte sie keinen Schaum vor dem Mund. Auch als wir fest auf ihren Brustkorb gedrückt haben, ist keine wässrige Flüssigkeit aus Mund oder Nase gelaufen. Ergo: Eine Überwässerung der Lunge, also: Auch ein Ödem können wir ausschließen. Wir hätten das ja auch sofort bemerkt, als wir ihre Lungenflügel aufgeschnitten und untersucht haben. Wir haben nichts Auffälliges gesehen – wenn man einmal von dem Zigaretten-Teer absieht, den sie sich im Laufe der Zeit im wahrsten Sinne des Wortes reingezogen hat. Fünftens: Sie hat keine hellroten Totenflecke. Und nach Bittermandel riecht die Leiche auch nicht. Ergo: Kein Zyanid, kein Kohlendioxid, keine Anzeichen für einen Kältetod. Was haben wir noch?“
Martin räusperte sich: „Na ja, ihre Haut war nicht gelb, ihre Leber ohne Befund. Ein Leberzerfallskoma, zum Beispiel durch eine Pilzvergiftung, können wir auch ausschließen.“
„Sie hatte ja auch keine Reste einer Pilzmahlzeit in ihrem Magen“, gab Mertens zu bedenken. „Stimmt“, pflichtete ihm Martin bei. „Eine Vergiftung mit Arsen oder Thallium können wir auch ausschließen. Weder die Finger- noch die Zehennägel weisen Mees-Nagelbänder auf. Ergo: Keine mattgrauen Querstreifen – also kein Hinweis auf eine Intoxikation mit Halb- oder Schwermetallen. Um genau zu sein – zumindest können wir in diesem Fall diese beiden chemischen Elemente ausschließen. Hm ... Tja, bleibt eigentlich nur ihr Gehirn. Das ist auffallend klein.“ Doktor Mertens blickte auf eine weiße Tafel, auf der Organe aufgelistet waren. Dahinter hatte der Sektionshelfer nach dem Wiegen handschriftlich das Gewicht von Herz, Hirn, Lunge, Leber und Nieren vermerkt. „Stammen die Gewichtsangaben von unserer Leiche hier?“, wollte Mertens von Schmidt, der in der Zwischenzeit sämtliche Haare an der Leiche entfernt hatte und gerade Löcher in die Luft guckte, wissen. Der Präparator hatte offenbar nicht damit gerechnet, angesprochen zu werden. Die Ärzte schienen mit sich selbst beschäftigt zu sein. „Äh ... Sorry, ich war gerade nicht auf Empfang. Welche Angaben meinen Sie genau?“ Der stellvertretende Institutsleiter rümpfte die Nase und verschränkte seine Arme vor der Brust. Er hasste es, wenn seine Mitarbeiter nicht bei der Sache waren. „Na, die Angaben, die dort hinter Ihnen auf der Tafel stehen ...“ Mertens zeigte auf die Tafel. Hermann Schmidt blickte sich verstohlen um. „Ach so, die meinen Sie. Ja, die sind noch von dieser Leiche.“
Mertens nahm die Werte ins Visier. „Tja, das ist wirklich seltsam. Ihr Gehirn wiegt nur 1150 Gramm. Normal wären 1300 Gramm, vielleicht auch etwas mehr. Jedenfalls so um den Dreh rum. Hm ... Trotzdem hatte Frau Stern eine Hirnschwellung, die aber nicht todesursächlich war. Sonderbar ...“
„Klarer Fall von Hirnatrophie“, meldete sich Doktor Martin zu Wort. „Ja, Gehirnschwund. Das ist schon klar. Der Mensch verliert ab dem 20. Lebensjahr etwa 50000 bis 100000 Hirnzellen täglich. Aber das erklärt nicht diese ausgeprägte Atrophie.“
„Sie war starke Raucherin“, warf Martin ein. „Das könnte davon kommen.“
Doktor Mertens rieb sich mit dem Ärmel des Kittels nachdenklich sein Kinn. „Dafür kann es viele Ursachen geben: Alzheimer, Demenz, Multiple Sklerose, Alkoholmissbrauch und haste nicht gesehen. Aber Frau Stern war erst 35. Was ich damit sagen will: Neurodegenerative Erkrankungen scheiden bei einer so jungen Frau eigentlich aus – und sie hatte auch keine Säuferleber.“
Präparator Schmidt mischte sich ein: „Ich will ja das Fachgespräch der Herren Doktoren nicht unterbrechen. Aber ich wäre dann so weit ...“
Die Rechtsmediziner schauten den Sektionsassistenten fragend an. „Na ja, ich sollte Kopf- und Schamhaare entfernen, und das habe ich getan ... Ich wollte’s ja nur sagen.“
Mertens und Martin mussten lachen. „Alles gut, wir gucken uns jetzt auch noch die freigelegte Haut an. Mehr können wir nicht tun“, sagte der stellvertretende Institutsleiter. Resignation schwang in seiner Stimme mit. „Venushügel oder Kopf – du hast die Wahl, Klaus“, sagte Mertens. „Dann nehme ich den Kopf“, antwortete Martin und schenkte ihm ein sanftes, schiefes Lächeln. „Ich habe nichts anderes erwartet“, zischte Mertens unter seinem Mundschutz. Wieder suchten die beiden Gerichtsmediziner jeden Quadratzentimeter Haut ab. Dort, wo Schmidt die Haare entfernt hatte, sah sie noch weißer aus als am übrigen Körper. Nadja Stern musste sich in den zurückliegenden Monaten irgendwo hüllenlos gesonnt haben. Doktor Martin hielt plötzlich inne und schnalzte mit der Zunge. „Karl, komm doch bitte mal her – und bring deine Lupe mit.“ Mertens, der gerade in gebückter Haltung den Schambereich der Toten inspizierte, richtete sich auf, drückte seine rechte zur Faust geballte Hand gegen seine Lendenwirbel und drehte sich zu seinem Assistenten um. Sein Rücken schmerzte. Kein Wunder: Er hatte sich heute ja auch schon über 21 Leichen gebeugt und einige Stunden in gebückter Haltung verbracht.
„Sag nicht, du bist auf was gestoßen?“, fragte Mertens erwartungsvoll. „Vielleicht ... Hier, guck mal ...“ Klaus Martin zeigte auf einen winzigen Punkt am Hinterkopf der Toten. „Das da könnte eine Einstichstelle sein, oder?“ Mertens schaute sich die Stelle durch sein Vergrößerungsglas an. „Hm ... Ja, in der Tat ... Das sieht wie eine Punktion aus. Könnte aber auch ein Insektenstich sein.“
Martin tat überrascht: „Im Januar? Nee, das halte ich für mehr als unwahrscheinlich.“ Doc Mertens war elektrisiert. In seinem Kopf tobte ein Gedankensturm. Was, wenn dieser Frau ein unbekanntes Gift injiziert worden war? War Nadja Stern getötet worden? Dann hatte der Mörder womöglich Insiderwissen, denn Kopf-, Achsel- und Schamhaare wurden den Toten bei Leichenschauen nur äußerst selten entfernt – es sei denn, die Körper wiesen an diesen Stellen äußere Verletzungen auf, die begutachtet und fotografisch dokumentiert werden mussten. Aber welches Gift hatte der Täter benutzt? Sie hatten bislang keine Hinweise auf eine Intoxikation gefunden. Doc Mertens schloss zwei Sekunden lang die Augen. Er musste sich kurz sammeln und eine Entscheidung fällen. „Wir müssen das Gewebe im Bereich der Einstichstelle toxikologisch untersuchen lassen. Daran geht kein Weg vorbei“, sagte er – und schaute seinen Assistenten an. Der nickte kaum merklich und signalisierte damit Zustimmung. „Klaus, schnapp dir bitte ein Skalpell und entferne damit großzügig das Gewebe rund um die Punktionsstelle – und zwar bis auf den Schädelknochen. Dann ab damit in ein Reagenzglas, aber kein Formalin benutzen!“ Im Weggehen streifte Doktor Mertens zunächst seine schwefelgelben Latex-Handschuhe ab und entsorgte sie in einem Abfalleimer für