Mit ihrem schwarzen Škoda Yeti war die krankgeschriebene Mordermittlerin nach Oldenburg gefahren, wo sie einen Termin beim RMD hatte. Die drei Buchstaben standen für Regionalmedizinische Dienste. Der Medizinische Dienst der Zentralen Polizeidirektion Niedersachsen mit Sitz in der Landeshauptstadt Hannover war für alle 500 Polizeidienststellen im Land zuständig – es gab Standorte in Hannover, Göttingen, Braunschweig, Lüneburg, Osnabrück und in Oldenburg. Die jeweiligen medizinischen Einrichtungen waren modern ausgestattet. Speziell geschultes medizinisches Personal, darunter 16 Polizeiärzte und ein Psychologe, kümmerten sich um 23000 Beamte und Angestellte. Einer von ihnen war der Psychiater und Psychologe Doktor Manfred Rixinger. Der Medizinische Dienst verstand sich als Servicepartner der Polizei. Die Ärzte führten nicht nur Sehtests durch. Sie entschieden letztlich darüber, ob ein Bewerber polizeidiensttauglich oder ein Polizeibeamter wieder dienstfähig war.
Herma van Dyck hatte panische Angst davor, aufgrund der Kopfverletzungen, die ihr im Dienst von einem Serienmörder zugefügt worden waren, ausgemustert zu werden. Dass sie seitdem unter Migräne litt, verschwieg sie deshalb. Während sie auf Rixinger wartete, dachte die Kriminalistin an das Beamtenstatusgesetz. In Paragraf 26 ging es um Dienstunfähigkeit. Wie oft hatte Herma sich die Sätze, die im sperrigen Juristendeutsch verfasst worden waren, durchgelesen, wie oft hatte sie nachts wach gelegen und über deren Bedeutung nachgedacht. Besonders ein Absatz ließ sie nicht mehr ruhig schlafen. Die Worte machten sie kirre. „Zur Vermeidung der Versetzung in den Ruhestand kann der Beamtin oder dem Beamten unter Beibehaltung des übertragenen Amtes ohne Zustimmung auch eine geringerwertige Tätigkeit im Bereich desselben Dienstherrn übertragen werden, wenn eine anderweitige Verwendung nicht möglich ist und die Wahrnehmung der neuen Aufgabe unter Berücksichtigung der bisherigen Tätigkeit zumutbar ist.“ Was für ein Scheiß, dachte Herma van Dyck. Sie wollte Mordermittlerin bleiben, Schwerverbrechern das Handwerk legen und nicht an irgendeiner Straßenecke den Verkehr regeln.
Hinter ihr knarrte es. Die Tür ging auf. Rixinger betrat den Raum. Herma erhob sich blitzschnell aus dem Stuhl, ihr Herz pochte, so als habe der Seelenklempner sie bei etwas Verbotenem erwischt. Der hagere Polizeiarzt ging mit ausgestreckter Hand auf Herma van Dyck zu. „Hallöchen, na, wie geht’s uns denn heute?“, fragte der Mann mit der schiefen Pinocchio-Nase, griff blitzschnell nach der Hand seiner Patientin und drückte sie kräftig. Was für ein Blödmann, dachte Herma, quälte sich aber ein Lächeln heraus. „Danke, gut.“ Herma konnte Leute nicht leiden, die „uns“ sagten, wenn sie ihr Gegenüber meinten. Sie hatte schon einen flotten Spruch auf den Lippen, behielt ihn aber lieber für sich. Sie wusste, dass dieser Pinocchio Macht über sie hatte. Von diesem Mann hing es ab, ob die Kriminalhauptkommissarin schon bald wieder auf Mörderjagd gehen durfte – oder nicht. Also beschloss sie, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Rixinger schaute ihr sekundenlang in die Augen. Er hatte von Berufs wegen eine gute Beobachtungsgabe, wusste, dass die Augen der Spiegel der Seele waren. In ihnen konnte er lesen wie in einem Buch. Herma fühlte sich bei dieser Musterung unwohl, sie wechselte nervös von einem Fuß auf den anderen und brachte nur ein „Tja ...“ heraus. Wie ein Schulkind, das beim Abschreiben ertappt worden war, senkte van Dyck ihren Kopf und nahm wieder auf dem Stuhl Platz, der vor dem Schreibtisch des Psychologen stand. Mit ihren Händen umklammerte sie krampfhaft die Armlehnen, wodurch ihre Knöchel weiß hervortraten. Rixinger schwieg. Dem Polizeipsychologen war nicht entgangen, dass sich die Kommissarin nicht wohl in ihrer Haut fühlte.
„Frau van Dyck, wie fühlen Sie sich?“, nahm der Psychologe den Gesprächsfaden auf.
„Gut, das sagte ich ja bereits“, blaffte Herma den Mann vom Medizinischen Dienst an. Die Ermittlerin lehnte sich zurück, presste ihren Rücken gegen die Stuhllehne, die verdächtig knackte, und verschränkte ihre Arme vor der Brust. Doktor Rixinger wertete das als Zeichen dafür, dass seine Patientin auf Distanz ging und vermutlich nicht ehrlich zu ihm sein würde. Er war gewarnt. Rixinger blätterte in seinen Notizen, raschelte mit den Papieren, die er vor sich ausgebreitet hatte.
„Hm ... Über Ihre Kindheit, Ihre verstorbenen Eltern, Ihre Laufbahn bei der Polizei und das, was Ihnen in Hameln zugestoßen ist, haben wir ja schon beim letzten Mal ausführlich gesprochen. Ähm ... Erzählen Sie mir doch bitte, wie es Ihnen in den vergangenen beiden Wochen so ergangen ist ... Was haben Sie so den lieben langen Tag gemacht? Wie gut haben Sie nachts geschlafen? Hatten Sie Albträume?“ Ein verächtliches Lächeln huschte über Hermas Gesicht. Rixinger verärgerte das. „Amüsiert Sie etwas, Frau van Dyck? Falls ja, verraten Sie mir doch bitte, welche meiner Fragen Sie gerade so erheitert hat ... Vielleicht können wir dann ja gemeinsam darüber lachen.“
Herma schniefte mit der Nase, hob abwehrend die Hände. „Ich habe mich nicht über Sie oder Ihre Fragen lustig gemacht, Herr Doktor Rixinger. Entschuldigen Sie bitte ... Glauben Sie mir, für mich ist das hier alles andere als witzig. Ich fand nur, dass Sie mir ganz schön viele Fragen auf einmal gestellt haben. Das ist schon
alles.“
Der Arzt und Diplom-Psychologe starrte Herma durch seine Nickelbrille an. Sein Blick war streng. Offenbar fühlte er sich nicht ernst genommen. „Und? Fühlen Sie sich in der Lage, meine Fragen zu beantworten?“
Herma beugte sich nach vorn. „Na klar doch ...“, sagte sie herausfordernd und rutschte auf dem Stuhl hin und her. Sie wollte diesen für sie unangenehmen Termin so schnell wie möglich hinter sich bringen. „Wie es mir geht? Sie wollen wissen, wie ich mich fühle, ja? Okay. Beschissen ist geprahlt. Ich habe Angst, meinen Job beim FK1 zu verlieren. Ich fühle mich Ihnen ausgeliefert, weil ich nicht weiß, was Sie von mir erwarten, Herr Rixinger. Pardon, Herr Doktor Rixinger. So sieht’s aus.“
Der Polizeipsychologe nahm seine Brille ab, hielt sie in seiner rechten Hand und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger seiner linken Hand seine Nasenwurzel. Er atmete hörbar aus. „Ich schätze Ihre Ehrlichkeit, Frau Hauptkommissarin.“
Herma unterbrach ihn. „Woher wollen Sie wissen, dass ich die Wahrheit gesagt habe?“
Rixinger setzte wieder seine John-Lennon-Nickelbrille auf und musterte Herma von oben bis unten.
„Ich will es Ihnen verraten – aber nur, weil Sie es sind.“ Doktor Rixinger zwinkerte ihr aufmunternd zu. „Wissen Sie, als Polizeipsychologe muss ich Körpersprache, Mimik und Mikrogestik beobachten und auswerten können. Schon Cicero hat gesagt: ,Das Gesicht ist ein Abbild der Seele.‘ Und was soll ich sagen? Es stimmt. Wer Lügen erkennen will, braucht eine gute Beobachtungsgabe und gute Ohren, denn an optischen und akustischen Signalen, die mein Gegenüber unbewusst aussendet, kann ich vieles erkennen. Ich will Ihnen das an ein paar Beispielen erläutern: Wenn wir lügen, wird unsere Stimmlage höher, reißen wir in bestimmten Situationen unsere Augen weit auf. Oder wir fuchteln mit unseren Händen wie wild in der Gegend herum. Wer zappelig ist – so wie Sie es vorhin waren – und weder still stehen noch sitzen kann, gibt sehr viel von sich preis – ohne es zu wollen und zu merken.“ Nach einer kurzen Sprechpause setzte er seinen Monolog fort: „Worte lassen sich leicht verbiegen, um die Wahrheit zum eigenen Vorteil zu verdrehen. Es ist aber beinahe unmöglich, das Gesagte auch mit den Augen wiederzugeben. Ihnen ist das auch nicht gelungen, als Sie mir gesagt haben, es gehe Ihnen gut. Das war geflunkert. Geben Sie es zu ...“
Herma van Dyck saß in leicht gebückter Haltung und mit geöffnetem Mund vor Rixinger und hörte ihm zu. Sie fühlte sich ertappt und gab die Empörte. „Ach, lassen Sie mich doch mit Ihrem albernen Cicero zufrieden. Wollen Sie mich etwa mit einem blöden Römer-Zitat beeindrucken?“ Herma war wütend. „Sie bezichtigten mich der Lüge. Das ist nicht in Ordnung – das ist einfach nicht fair. Wenn Sie jemand fragt, wie es Ihnen geht, sagen Sie doch auch: ,Gut‘ – oder etwa nicht? Das ist wie ein Reflex.“ Die Kommissarin senkte ihren Kopf, sie wollte nicht, dass Rixinger ihre feuchten Augen sah. „Okay ... Sie glauben mir nicht, dass ich fit bin für den Dienst“, sagte sie schulterzuckend. „Was soll ich jetzt tun, um Sie vom Gegenteil zu überzeugen? Purzelbäume schlagen, oder was?“, sagte sie.
Der Psychologe schluckte glucksend Speichel herunter, der sich in seinem Mund gesammelt hatte. „Ich habe das Gefühl, dass sie mich als Ihren Feind ansehen. Das bin ich aber nicht. Ich stehe auf Ihrer Seite. Ich bin ein Freund.