Doktor Mertens holte tief Luft. Die Frage nach dem Warum überhörte er. „Es ist vorerst nur ein Verdacht. Wir haben die Tote erneut nach Einstichstellen abgesucht und dabei auch die Kopfhaut und den Schambereich rasiert. In der Kopfschwarte haben wir eine winzige Punktion entdeckt. Es scheint uns, also mir und dem Kollegen Martin, eher unwahrscheinlich, dass es sich dabei um einen Insektenstich handelt.“
Brenner leckte sich über die Lippen. „Das wäre ja ein dickes Ding. Das hieße ja, wir hätten es mit einem Täter zu tun, der seinem Opfer mit einer ganz feinen Nadel Gift injiziert – und zwar an einer Stelle, die man leicht übersehen kann ...“
„Genauso ist es“, bestätigte der Rechtsmediziner. Der Mordermittler setzte sich wieder auf seinen Stuhl. Dabei achtete er darauf, nicht in den Scherbenhaufen zu treten. „Und was schlagen Sie jetzt vor, Doc?“
Auf diese Frage hatte Mertens gewartet. „Nun, es gibt nur eine Möglichkeit, Klarheit zu erlangen und die Wahrheit herauszufinden ...“
„Ja, und die wäre?“, unterbrach ihn Brenner ungeduldig.
„Wir müssen die Haut und das Unterhautfettgewebe rund um die mögliche Einstichstelle herausschneiden und die Gewebeprobe von unserem Labor auf Drogen, Medikamente und andere todbringende Substanzen untersuchen lassen. Natürlich sollten auch Leichenblut und Urin analysiert werden.“
Brenner strich sich mit der flachen Hand über seine Glatze. „Hm ... Verstehe. Und ich soll jetzt die Staatsanwaltschaft dazu bringen, grünes Licht für diese Untersuchung zu geben, richtig?“
„Herr Brenner, Sie haben es erfasst. Es geht mal wieder um den schnöden Mammon. Sie kennen doch den Spruch: Wer die Musik bestellt, der muss sie auch bezahlen. Ohne Auftrag der Polizei oder der Staatsanwaltschaft dürfen wir nicht tätig werden. Da sind mir als Rechtsmediziner die Hände gebunden – leider. Wir tragen zwar im günstigsten Fall dazu bei, dass die Kripo ein Tötungsdelikt aufklären kann, aber – anders als im Fernsehen – ermitteln wir nicht selbst, wie Sie wissen.“
„Äh ...“ Der Mordermittler kratzte sich an der Stirn. „Herr Doktor Mertens, sagen Sie mal: Könnte ich diese Laboruntersuchungen veranlassen? Oder muss das zwingend ein Staatsanwalt machen?“
„Nun, das ist eigentlich Sache der zuständigen Staatsanwaltschaft. Aber es kommt regelmäßig vor, dass ein erfahrener Polizeibeamter das auf seine Kappe nimmt. Die jungen Kommissare, ja, die fragen immer nach. Die wollen nichts falsch machen und noch was werden; die alten treffen gern selbst die Entscheidung.“
Der Leiter vom Mord und Totschlag musste lachen. „Nachtigall, ick hör dir trapsen“, sagte Brenner im feinsten Berliner Dialekt. „Message received ... Was kostet denn so eine Analyse? Spucken Sie’s schon aus.“
Mertens atmete auf. Der Mordermittler war kurz davor, die Toxikologie der Rechtsmedizin mit weiteren Nachforschungen zu betreuen. „Och, das ist gar nicht so teuer ...“, antwortete der Forensiker. „So cirka 100 Euro.“
Brenner war erstaunt. „Wie? Echt jetzt? Mehr nicht? Warum haben Sie das nicht gleich gesagt, Doc. Klar, das nehme ich auf meinen Deckel. Wenn’s der Wahrheitsfindung dient und anders nicht geht, bezahle ich die Rechnung aus meiner Tasche ...“
Mertens war zufrieden. Er hatte sein Ziel erreicht. „Fein, fein. Dann werte ich das jetzt mal als Auftrag.“
„Ja, bitte machen Sie diese Analyse – und rufen Sie mich umgehend an, wenn es in der Sache Stern etwas Neues gibt.“
„Selbstverständlich, Herr Brenner“, sagte der stellvertretende Institutsleiter und verabschiedete sich. „Dann sage ich jetzt erst einmal Tschüss. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag – und bleiben Sie gesund und munter.“
„Ja, das wünsche ich Ihnen auch, Herr Doktor. Wir hören dann voneinander.“ Die Männer beendeten das Telefonat. Während Karl Mertens freudestrahlend die Treppe, die zum Sektionssaal führte, hinunterging, wählte der Erste Kriminalhauptkommissar Kurt Brenner die Nummer von Miriam von der Heide. Er wollte die Staatsanwältin über die neuesten Entwicklungen im Fall Nadja Stern informieren. Nachdem es am anderen Ende der Leitung dreimal geklingelt hatte, war eine rauchige Frauenstimme zu hören. „Wer stört?“, meldete sich Miriam von der Heide, die mit Brenner befreundet war und anhand der Nummer im Display sofort gesehen hatte, wer sie anrief.
„Hallo, Miriam“, sagte Brenner. „Habe ich dich etwa beim Büroschlaf gestört? Ich würde es dir nicht verübeln. Power-Napping soll ja sehr gesund sein?“ Der Mordermittler lachte gehässig. Die Staatsanwältin spielte die Empörte: „Du Schuft, du ... Wenn du wüsstest, was ich hier alles zu tun habe. Mein Schreibtisch biegt sich unter der Last der Aktenberge.“
Nach dem nicht ernst gemeinten Wortgefecht informierte Kurt Brenner die ermittelnde Staatsanwältin. Miriam von der Heide hörte sich schweigend an, was der leitende Mordkommissar zu berichten hatte. Nur ab und zu zog sie an ihrer Marlboro, die die Kettenraucherin heimlich in ihrem Büro inhalierte. Brenner gestand ihr, dass er über ihren Kopf hinweg eine Entscheidung getroffen hatte. Staatsanwältin von der Heide hustete Schleim ab. Ihre Zigarette klemmte lässig in ihrem linken Mundwinkel, was ihr ein verwegenes Aussehen verlieh. „Kurt, wir können das hier abkürzen. Du hast alles richtig gemacht. Alles gut ... Das hätte ich genauso gemacht. Bei einem dermaßen gravierenden Verdacht dürfen wir keine Zeit verlieren. Ich hoffe allerdings, die Rechtsmediziner irren sich.“
Brenner war beruhigt. Seine Entscheidung war im Nachhinein von der Staatsanwaltschaft abgesegnet worden. „Ja, stimmt, es wäre schön, wenn sich das Ganze als Fehlalarm entpuppen würde. Okay, meine Liebe. Dann warten wir mal ab, was die forensischen Toxikologen herausfinden.“
Die Staatsanwältin zog an ihrer Kippe, stieß kurz darauf – für Brenner hörbar – blauen Dunst aus. „Jo, so mok wi dat ...“, sagte sie. „Mach’s gut, Kurt. Und halt mich bitte auf dem Laufenden. Du weißt ja: Ich lebe gern in der Lage.“
„Alles klar“, sagte Brenner. „Versprochen.“
Kapitel 12
Die Wintersonne schien in feinen Streifen durch die leicht aufgezogenen Lamellen der grauen Jalousie, die das Büro von Doktor Manfred Rixinger abdunkelte. Im schräg einfallenden warmen Sonnenlicht schienen Staubkörner einen wilden Freudentanz aufzuführen. Herma hatte das Gefühl, dass die Zeichen auf Frühling standen. Sie freute sich auf immer länger werdende helle Tage, wollte die dunkle Jahreszeit hinter sich lassen.
Überall schossen Schneeglöckchen und Krokusse mit Macht aus der Erde, und die ersten Störche kehrten schon aus Afrika zurück. Dabei war es noch Januar – ein ungewöhnlich milder allerdings. Die Natur spielte verrückt. Als Herma am Morgen ihr kleines Haus am Deich verlassen hatte, um nach Oldenburg zu fahren, war ein Schwarm Kraniche in Keilformation über sie hinweggeflogen. Das laute Trompeten der großen grauen Vögel hatte sie verwundert aufhorchen lassen. Van Dyck konnte