„Einige Tage später hörte ich in der Rotenburger Mühle, dass er bei Kirchwalsede tot am Ast eines Baumes baumelnd aufgefunden wurde und sich selbst gerichtet haben soll. Wie Adelheid schon sagte, der Herr lässt Gerechtigkeit walten.“
Abelke wollte etwas fragen, weil es spannend war und es ihr zu viele Erzählpausen gab, aber der strafende Blick von Harm hielt sie davon ab.
„Bei einem Krug Bier erzählte unser damaliger Amtsvogt, wie es sich seiner Meinung nach abgespielt haben könnte, denn so, wie er ihn vorgefunden hatte, muss der Teufel seine Hände im Spiel gehabt haben. Er hing mit seinem Hals in einer Seilschlinge, oder was von ihm noch übrig war, an einem dicken Ast. Da muss er wohl hinaufgeklettert sein und sich dann fallen gelassen haben.
Der Vogt beschrieb in allen Einzelheiten, wie so ein Genick brechen kann, wenn man es nur richtig macht. Ich hätte mir gewünscht, er wäre jämmerlich röchelnd an Luftnot erstickt, wie der Dieb im letzten Jahr, bei dem der Henker keine gute Arbeit ablieferte.“
Da hielt Harm mit dem Erzählen inne, denn er hatte nicht bedacht, dass Abelkes Mutter kurz danach auf dem Scheiterhaufen starb und das Mädchen ein wenig blass um die Nase geworden war.
Adelheid hatte die Situation sofort erfasst, lächelte das Mädchen an und sagte mit liebevoller Stimme: „Ich glaube, ich erzähle doch weiter“, und tat es auch.
„Mir tat zwar Beke, also Döhrnemanns Witwe, leid, aber ich hätte ihm auch ein langes und sehr qualvolles Ende gewünscht, schließlich hat er meinen Jungen in den Tod getrieben. Dass Beke sich darauf in den Hausbrunnen zu Tode stürzte, traf mich schon. Eigentlich taten mir nur die Kinder leid“, fügte sie leise an.
„Seit dem hat Cordt, der Hinkefuß, Harms jüngerer Bruder, dessen Rolle, mich schlecht zu machen, übernommen. Er verbreitet überall Gerüchte und führt üble Reden über mich. Er hatte auch behauptet, der Teufel, mit dem ich angeblich im Bunde stünde, hätte sich an seinem Bruder in meinem Namen gerächt.
Damit will ich es nun für heute gut sein lassen und du weißt jetzt, was geschehen ist. Sein Selbstmord hat erneut bewiesen, dass ich unschuldig bin.“
Abelke nickte und war froh, dass die Geschichte nicht von Harm weiter erzählt wurde, denn er erzählte Geschichten immer so lebhaft und voller Spannung, dass es ihr dann immer ganz flau im Magen war. Abelke stellte es sich sehr bildhaft vor und es grauste ihr dabei. Zugleich aber verspürte sie das Verlangen, die Geschichte bis zum Ende zu hören.
Sie konnte nachts nicht gut schlafen, weil sie immer noch die Schreie ihrer Mutter hörte, obwohl der Vater ihr damals die Ohren zugehalten hatte. Sie hatte sie dennoch deutlich vernommen. Erst seit sie bei Adelheid in Obhut und nun in Stellung war, ging es ihr immer besser und die Albträume wurde allmählich weniger.
1607
Es war das Jahr, in dem Anna Dreyer in Bötersen geboren wurde, die später Diedrich Hastede aus Hetzwege ehelichte. Im selben Jahr ließ Maria Hastedt aus Bötersen ihre Tochter Tibke taufen, die man später als „Tibke von Bartelsdorf“ benennen würde.
Marias Onkel, Cordt Döhrnemann, den alle nur den Hinkefuß nannten, konnte es einfach nicht sein lassen und sprach unentwegt und bei jeder Gelegenheit von seinem seligen Bruder Harm. Er saß während der Taufe von Tibke nur zwei Bänke hinter Harm und Adelheid Hoops.
Während der anschließenden bescheidenen Tauffeier erzählte er mit Häme von Adelheid und bezeichnete sie als „seine Hexe“, die wohl nur so getan hätte, als habe sie ihn nicht bemerkt. Er sagte für alle hörbar: „Dabei ist doch die alte Hexe Adelheid schuld am Tod meines Bruders Harm und meiner Schwägerin Beke.“
Als Maria davon hörte, war es ihr sehr peinlich und es verdarb ihr ein wenig die Mutterfreuden. Dass ihre Eltern ums Leben kamen, wollte sie der „Zauberschen“ aus Höperhöfen nicht verzeihen, aber heute war Tibkes Taufe und keine Hexenjagd.
Sie litt sehr darunter, denn viele ließen sie spüren, dass der selige Vater wohl eine große Dummheit gemacht hatte, sich mit einem im Vergleich zu anderen wohlhabenden Bauern angelegt zu haben.
Dass durch das Unglück großes Ungemach über die ganze Familie gekommen war, erlebte sie jeden Tag aufs Neue.
In Höperhöfen auf dem Hof von Harm und Adelheid ging das Leben weiter und der Alltag ging seinen Weg. Harm Döhrnemann war lange tot und die Sticheleien seines Bruders Cordt ärgerten zwar, wurden aber überwiegend ignoriert.
Adelheid war als Hebamme und Kräuterfrau weiter im ganzen Kirchspiel unterwegs, mied aber den Kontakt zu Döhrnemanns, den Nachbarn ihrer Eltern.
1610
Hibbel Holsten war die 20-jährige Tochter von Claus, dem Mann, der vor zehn Jahren seine Nachbarin Beke Döhrnemann zum Freitod in den Brunnen stürzen sah. Er war aber auch der Nachbar der Familie Stavenhitter, deren Tochter Adelheid nach Höperhöfen in den Hoopshof eingeheiratet hatte.
Hibbels Eltern hatten entschieden, sie als Magd auf den Hof nach Höperhöfen zu Adelheid Hoops, die als Bademutter bei den Frauen einen nachhaltig guten Ruf wie auch in der Kräuter- und Heilkunde genoss zu geben. Hibbel liebte Kinder über alles und sollte nach dem Willen der Eltern auch Hebamme werden, was dem Wunsch der Tochter entsprach. Diese Entscheidung brachte Hibbels Eltern mit der Nachbarin Maria Hastede heftigen Streit ein, weil deren Vater ja einst gegen Adelheid geklagt und verloren hatte und der sich vor zehn Jahren, nach der Landesverweisung aus dem Amt, bekanntermaßen das Leben genommen hatte. Diese alte, tragische Geschichte erzählte man sich noch immer in den Dörfern und die Gerüchte verstummten einfach nicht. Sie stand wie eine unüberwindbare Mauer des Hasses zwischen den Menschen in dem Dorf.
Adelheid war zwar erst 45 Jahre alt, wurde aber schon als die „alte Hoops“ bezeichnet, denn sie wirkte zehn Jahre älter als sie biologisch gesehen war. Die Jahre der Anfeindungen hatten tiefe Spuren hinterlassen.
Sie wusste und hörte es immer wieder, sagte es auch allen Frauen, denen sie vertraute und das Handwerk beibrachte: „Pass aber gut auf dich auf, denn Bademütter leben gefährlich. Weil sie sich aufs Warzen besprechen, die Geburtshilfe, Kräuter und allerlei Arzneien verstehen, hat sie jeder Henker stets im Auge und gedenkt durch sie seinen Geldbeutel merklich zu füllen.“
1611
Hibbel war nun schon seit einem Jahr auf dem Hof und hatte eine ganze Menge erlebt und gelernt. Als Magd war sie mit den Hochzeitsvorbereitungen für Adelheids Sohn Joachim beschäftigt, der seine Gesche übermorgen heiraten sollte.
Ihr fiel die Aufgabe zu, für die Hochzeitssuppe die Hühner zu holen, denen der Knecht Armin eben erst den Hals umgedreht und abgeschlagen hatte. Bevor er sie nun schlachten konnte, mussten sie gerupft werden. Das war Hibbels Aufgabe.
Sie saß auf der Bank neben der kleinen Seitentür und hatte das erste Huhn in ihren Händen, als eine Amsel ihre Aufmerksamkeit erregte.
Dabei wanderte ihr Blick über den Hof, der ihr sehr vertraut geworden war und wo sie sich zu Hause fühlte.
Imponierend standen viele alte und sehr große Eichen auf dem ganzen Hofplatz. Sie boten Schutz vor Wind und Schnee, nahmen aber auch viel Licht. Die Hofschweine fraßen im Herbst die vielen Eicheln auf, mit denen sie auch gemästet wurden.
Abelke dachte noch an die Zeit von vor einem Jahr zurück, als sie hier ankam und sehr herzlich aufgenommen wurde.
Es gab keinen Tag, an dem der Viehbestand nicht seine Hege und Pflege einforderte, wobei das die Aufgabe der Knechte war. Die Männer kümmerten sich um die Pferde, die Immenvölker, die Kälber und Kühe. Für die Mägde blieben die Schweine, die Ferkel und die Hühner übrig. Für die 60 Schafe gab es sogar einen Schäfer auf dem Hof.
„Kind, schlaf nicht, oder willst du dem Vieh auch noch die Haut rupfen“, schubste sie Armin laut lachend an.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf und sagte mit unsicherer Stimme: „Ich habe wohl mit offenen Augen geträumt.“