In diesen Tagen ging niemand auch nur einen Schritt nach draußen, wenn er es nicht wirklich musste.
Die Menschen in den umliegenden Dörfern hielten die Türen und Fenster fest verschlossen, ja sie verstopften sogar die Ritzen mit alten Lappen, da sonst die wenige lebensnotwendige Wärme nach draußen entwichen wäre. Türen wurden verrammelt und die geschlossenen Fensterläden ließen kein Licht in die Häuser. Da sich in den Dörfern kaum jemand Fensterglas leisten konnte, waren die Rahmen der kleinen Fensteröffnungen mit Tierhäuten bespannt, die auch an hellen Sommertagen wenig Licht in das Innere der großen Fachwerkhäuser ließen.
Harm Hoops, der Bauer und Familienvater, saß an diesem Abend mit seinen nunmehr 49 Jahren dick eingehüllt im Kreise seiner Familie am Flettfeuer, das die lebensspen-dende Wärme sicherte.
Harm sah seinen Sohn und Nachfolger Joachim dankbar und anerkennend an, denn dieser hatte ohne Anstoß von ihm bereits im Herbst die Löcher und Ritzen des Hauses durch den Großknecht Peter mit Lehm und Stroh zuschmieren lassen. Das Werk war zwar gut geraten, trotzdem bibberten sie alle im Hause fürchterlich vor Kälte und ihre Gesichter waren von dieser eisigen Frische gerötet. Die Bärte und Augenbrauen waren trotz Feuer und dicker Winterkleidung mit Eiskristallen überzogen, denn die Temperaturen lagen gleichwohl unter dem Gefrierpunkt.
Die Körperwärme der Menschen und der Tiere, die ja nicht nur in einem Haus, sondern auch in einem Raum lebten sowie das kleine offene Feuer waren die einzigen Wärmequellen in den ungedämmten Häusern jener Zeit.
Neben Harm und seiner Frau Adelheid saßen der ihnen als einziger gebliebene und inzwischen zwanzig Winter alte Sohn Joachim, der betagte Großknecht Peter und die 13-jährige Jungmagd Abelke. Sie saßen auf groben Holzbänken, die um das kleine Feuer gestellt waren, welches in diesen Tagen nicht ausgehen durfte.
Lediglich Harm und seine Frau saßen auf Stühlen, deren Sitzflächen mit einem Geflecht aus Weidenrinde versehen waren.
Das Brennholz, um die Feuerstelle auf diesem Hof auch über einen langen Winder zu versorgen, war vorhanden. Andere hatten keine so üppigen Holzvorräte und ertragreichen Höfe vorzuweisen wie Harm in Höperhöfen.
Sie heizten überwiegend mit Torf, Heide oder auch gar nicht mehr, weil nichts mehr zum Verbrennen vorrätig war. Der diesmal schon sehr früh hereingebrochene und lang andauernde, ungewohnt kalte Winter hatte bei manchem alles Brennbare aufgezehrt. Selbst Möbel, so berichtete man, hätten einige bereits der Not geopfert.
Dass es Harms Familie besser ging, schürte nicht nur Neid, es brachte auch Hass hervor, denn nicht Wenige waren in ihren Häusern bereits verhungert oder gar erfroren.
Harm hatte noch zwei weitere Jungknechte. Diese waren von Harm zur Wintersonnenwende zu ihren Familien entlassen worden und würden in wenigen Tagen zurückkehren.
Der heutige Abend aber war für die Familie auch ein besonders trauriger Tag.
Harms jüngster Sohn Warneke wäre heute 18 Jahre alt geworden, wenn er noch leben würde. Ihnen war nur Joachim geblieben. Die anderen Kinder von Harm und Adelheid waren schon früh an Masern oder Schürken verstorben. Adelheid war eine der wenigen Frauen im Kirchspiel Sottrum, die als Hebamme tätig war. Doch auch sie blieb von Schicksalsschlägen nicht verschont.
Abelke, die Jungmagd, wusste zwar aus Erzählungen durch den Großknecht, dass der jüngere Bruder von Joachim tot war, aber nicht warum.
Sie war nun schon beinahe seit einem Jahr auf dem Hof und es gefiel ihr hier, auch wenn die Arbeit schwer und die Tage lang waren. Sie hatte sich entschlossen, auch Hebamme zu werden und es bei der Bäuerin zu lernen.
So fragte sie Adelheid und sah sie dabei erwartungsvoll, zugleich aber auch zurückhaltend an.
„Was ist mit Joachims Bruder geschehen und wie ist er gestorben?“, wollte sie wissen.
Harm und Adelheid sahen sich an und Harm nickte nach einer Weile zustimmend. Adelheids Lippen wurden sehr schmal und ihre Augen schlossen sich, als ginge sie in sich. Harm spuckte seinen Priem hinter sich auf den Boden, sah nachdenklich in die Runde und begann in einem ruhigen, aber schwermütigen Ton zu erzählen.
„Heute wäre unser Warneke 18 Jahre alt geworden. Du weißt sicherlich, dass meine Frau als Bademutter überall gebraucht wird. Diese wichtige Aufgabe ist bei vielen aber leider mit einem Makel behaftet. Diese Vorurteile waren mir schon als junger Mann bekannt und die Reformation mit der Einführung hier bei uns in der Gegend, da war ich 15 Jahre alt, hat daran nichts verändert. Dennoch habe ich meine Adelheid geheiratet“.
Dabei zwinkerte er ihr liebevoll mit den Augen zu und seine Mundwinkel formten sich zu einem Lächeln.
Er lehnte sich in seinen Stuhl zurück, stopfte in aller Ruhe seine Pfeife und zündete sie mit einem Kienspan an, den er im offenen Flettfeuer entflammte. Er zog zwei, dreimal genüsslich an der Pfeife. Der blaue Rauch seiner „Piep“, wie er sie nannte, fiel im Flett des Hauses nicht mehr auf und auch nicht zur Last, denn das offene Feuer verbreitete schon genug Rauch, weswegen man die Häuser ja auch Rauchhäuser nannte.
Dann schaute Harm zu den über ihnen an der Decke im Rauch hängenden Vorräten an Würsten und Schinken, zog noch einmal freudig an der Pfeife und blies den Dunst langsam nach oben aus, als wollte er einen der Schinken mit seinem Pfeifenrauch umarmen. Die anderen um ihn herum wurden langsam ungeduldig, was Harm sichtlich und in seiner Ruhe genoss. Dann drehte er seinen Kopf und sah Abelke an, die während der ganzen Zeit still das Geschehen aufmerksam verfolgte und dem Rauch gebannt, aber auch nachdenklich nachgeschaut hatte.
Adelheid begann nun zu erzählen, da Harm offensichtlich mit seiner Zeremonie fertig war.
„Kind, du weißt ja auch, dass Hebammen viele Leiden lindern können und dazu den einen oder anderen Umschlag bereiten müssen und Sude kochen.“
„Ja, das weiß ich. Dabei habe ich auch schon mithelfen dürfen“, räumte sie mit Stolz in ihrer Stimme für alle hörbar ein und lächelte, trotz der eisigen Temperaturen auch noch dabei.
„Na, dann weißt du ja auch, dass es mit Zauberkunst und Hexerei nichts, aber auch gar nichts zu tun hat“, warf Harm in seiner väterlichen Art ein.
„Meine selige Mutter war auch Bademutter und hat Mittel hergestellt, um meinen Geschwistern und mir, wenn wir krank waren oder uns wehgetan hatten, zu heilen. Sie hat um die Kräuter und deren Heilkraft sehr gut Bescheid gewusst. Sie lebt leider nicht mehr“, seufzte Abelke und die Augen wurden ihr ein wenig feucht.
„Sie haben sie im letzten Jahr als Hexe in Ottersberg verbrannt und keiner konnte ihr helfen. Sie war keine Hexe und mein Vater hat ihr auch nicht helfen können“, fuhr sie fort und ihre feuchten Augen konnten die Tränen nicht mehr zurückhalten.
Adelheid beugte sich zu ihr, strich ihr über das Haar und sprach: „Deine selige Mutter war eine ganz liebe und hilfsbereite Frau, die durch Verleumdung, Hass, Neid und Missgunst zu Unrecht auf den Scheiterhaufen gebracht wurde.
Ich kannte sie gut und du bist wie eine Tochter für mich. Leider sind meine eigenen beiden kleinen Mädchen schon im Himmel“, fügte sie wehmütig an.
Die Stimmung im Raum war getrübt und alle saßen nachdenklich in der kleinen Runde.
Dann sah Adelheid ihren Harm an und sagte: „Lass mich in Ruhe weitererzählen, dann geht es mir besser. Du hast sehr gut gesprochen“, lobte sie ihren Mann, der ihr dafür ein Lächeln, ja, fast ein Strahlen schenkte.
„Ich erzähle gerne weiter, ich kann mir dabei vieles von der Seele reden“, stellte sie mehr fest, als dass sie ihn fragte.
Harm pflichtete ihr bei, indem er seine Augen zustimmend verschloss und mit dem Haupt ein wenig nickte.
„Mein