Unerwartet sah Forte den Fremden wieder. Er kam aus seinem Versteck in einer Seitenkapelle heraus und rannte auf einen Nebenausgang zu. Kurz bevor er die Tür erreichte, wurde er von einem der Polizisten überwältigt. Zwei weitere Uniformierte liefen dazu. Der Fremde schrie etwas auf Portugiesisch. Es klang wie Hilfe. Einige Frauen standen wie erstarrt. Kurz darauf schleppten die Polizisten ihren Gefangenen nach draußen. Alles dauerte nur wenige Minuten. Langsam kam wieder Leben in die erstarrten Gestalten in der Kathedrale. Eine Frau lief zum Priester und zum Sakristan. Sie setzte sich neben ihn auf die Bank und redete auf ihn ein. Dann telefonierte sie mit ihrem Smartphone und reichte das Gerät dem Priester weiter. Forte wachte aus seiner Schockstarre auf. Er versuchte sich das Gesicht des Mannes einzuprägen, der ihm den Umschlag gegeben hatte. Wie sah der Anführer der Uniformierten aus? Er hatte von der Brutalität der brasilianischen Polizei gelesen. Nahm man dort keine Rücksicht auf heilige Orte? Wo war Barbara Schuster? Sie sprach im Altarraum mit einer älteren Frau. Als er neben ihr stand, sah er, dass sie kreidebleich war.
„Was hat der Mann geschrien“, fragte Forte.
„Er hat um Hilfe gerufen. Hilfe, sie wollen mich umbringen oder so ähnlich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Keine Polizei.“
Forte murmelte: „Ich hatte solche Angst. Ein brasilianischer Schriftsteller hat bei der Buchmesse vor einem Jahr gesagt, man muss in Brasilien mehr die Polizei als den Dieb fürchten. An den Satz musste ich denken.“
Die Deutsche sah ihn an. „Sind Sie sicher, dass es die staatliche Polizei war? Warum rief der Mann dann ‚keine Polizei‘?“
Forte wollte nur noch raus. „Kommen Sie, wir gehen! Wenn wir warten bis die Polizei kommt, fliegt das Flugzeug ohne uns ab.“
Schuster zögerte. Sie ging zu dem Priester, der sich aufgebracht mit dem Sakristan und zwei Frauen unterhielt und gab ihm ihre Visitenkarte. Nebeneinander verließen sie die Kirche. Auf der anderen Straßenseite sahen sie die Busstation. Als sie in den Express-Bus zum Flughafen einstiegen, fuhren zwei schwarze Fahrzeuge der Polícia Militar mit hoher Geschwindigkeit und Blaulicht auf den Vorplatz der Kathedrale. Fünf bewaffnete Polizisten in Schutzwesten liefen im Laufschritt zum Eingang der Basilika. Sie trugen die gleichen Uniformen wie die Männer, die den Fremden abgeführt hatten. In der linken Seitentasche seiner Jacke spürte Forte den Umschlag.
Kapitel 8
Donnerstag, 5. Juni, nachmittags, Rua Brigadeiro Tobias
Gil teilte sich ein kleines Büro mit Komirowski. Die Schreibtische standen nur ein Meter voneinander entfernt. Sie konnte das Parfüm ihrer Kollegin riechen. In ihrer Schreibtischschublade hatte Gil noch ein Lutschbonbon gefunden. Sie fuhr ihren Computer hoch und blätterte zerstreut durch die Papiere, die auf ihrem Tisch lagen. Ein Briefumschlag erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie den Umschlag öffnete, hielt sie den Obduktionsbericht der Toten aus dem Fußballstadion in den Händen. Für den Fall war Duarte zuständig, doch João Russo hatte aus alter Gewohnheit ihr die Ergebnisse der Pathologie zugeleitet. Zunächst wollte sie den Bericht ungelesen in einen neuen Umschlag stecken und an ihren alten Chef adressieren. Dann siegte ihre Neugierde.
Die Frau war mit einer Walther P 22 aus einem Abstand von 150 cm erschossen worden. Das zeigten die Hautveränderungen auf der Einschussstelle. Die Waffe war auf der ganzen Welt bei Gangstern beliebt. Der Pathologe vermutete den Todeszeitpunkt am 29. Mai zwischen 20 und 1 Uhr am 30. Mai. Der Fundort der Leiche war nicht der Ort ihrer Ermordung. Die Frau war 168 cm groß und Anfang 20. Ungewöhnlich war, dass sie schon dreimal schwanger war. Ein Kind war auf dem normalen Weg zur Welt gekommen, zwei Kinder per Kaiserschnitt. Auch in Brasilien kam es nicht häufig vor, dass eine Frau mit vielleicht 22 Jahren drei Kinder austrug. Das kleine Tattoo mit den kelchförmigen Händen und dem Kreuz war etwa 5 cm groß und schon mehrere Jahre auf dem Körper der jungen Frau. Die Tote war sorgfältig gesäubert worden. Auf ihrer Hose hatte die Spurensicherung drei kleine Blutspritzer gefunden. Das Blut stammte nicht von der Toten. Das konnte ein erster Hinweis auf den Täter sein. Die Fußballer der beiden Erwachsenenmannschaften waren befragt worden. Niemand kannte die Tote.
Bei den Papieren fand sie das Vernehmungsprotokoll mit dem Präsidenten von Juventus São Paulo. Es handelte sich um den Geschäftsmann Walter Buda, der auch im Präsidium des brasilianischen Fußballverbandes saß. Seine Firma war am Bau zweier WM-Stadien beteiligt.
Vernehmung mit Walter Buda, am 4. Juni in seinem Büro durch Capitão Duarte.
Duarte: „Sie haben gehört, dass auf dem Rasen des Estadio Conde eine tote junge Frau lag. Hier ist ein Foto von der Toten.“
Buda: „Ja, der Platzwart des Vereins hat mich über diesen tragischen Fall informiert. Haben Sie schon den Täter?“
Duarte: „Leider nein, deshalb will ich Sie als Zeugen vernehmen. Bitte schauen Sie sich das Foto an. Kennen Sie die Tote?“
Buda schüttelt den Kopf. „Ich habe diese Frau noch nie gesehen.“
Duarte: „Haben Sie eine Idee, weshalb sie auf den Rasen Ihres Stadions gelegt wurde?“
Buda: „Da kann ich leider nichts sagen. Ich denke, es ist Sache der Polizei das herauszufinden.“
Duarte: „Natürlich. Haben Sie mit irgendjemand Ärger?“
Buda lachte. „Ach so, Sie meinen eine Rache oder so etwas. Haben Sie schon die Spieler gefragt, ob jemand das Mädchen kannte? Das halte ich für eher wahrscheinlich...“
Duarte: „Haben Sie einen bestimmten Spieler in Verdacht? Hatte ein Fußballer private Probleme?“
Buda: „Ich möchte nicht falsch verstanden werden. Ich will niemanden verdächtigen. Nur so eine blonde hübsche junge Frau. Das könnte wirklich etwas mit einem Fußballer zu tun haben.“
Duarte: Nochmals, haben Sie eine Vermutung, warum die Frau im Stadion lag?“
Buda schüttelte den Kopf.
Das Gespräch endete nach 15 Minuten.
Gil schob die Vernehmung und die übrigen Berichte in den Umschlag zurück. Sie schrieb die Adresse ihrer alten Polizeistation mit einem Kugelschreiber darauf. Vielleicht wäre es besser, diesen Mordfall aufzuklären als gestohlene Fußball-Pokale zu jagen. Sie beschloss João Russo in einer Woche anzurufen und sich beiläufig nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen.
Kapitel 9
Freitag, 6. Juni vormittags, Avenida Marginal Pinheiro, São Paulo
Als erstes fielen ihr an der Frau die schönen Beine auf. Ansonsten war sie eher unscheinbar. Ihr Gesicht wirkte müde und ausdruckslos. Aber diese Beine! Marina Suarez saß Kaugummi kauend in einem Besprechungszimmer des Hotels Marriott und blickte nach unten. Ihre Antworten auf die Fragen waren kurz und einsilbig.
Zunächst hatte die Zeugin, die als Reinigungskraft im Luxushotel arbeitete, bereitwillig alle Angaben zu ihrer Person gemacht. Seit fünf Jahren arbeitete sie im Mariott, war nie krank. Vor einem Jahr stieg Suarez zur Reinigungskraft in den Luxussuiten auf. Der Stundenlohn hatte sich verdoppelt, der Zeitdruck auch.
„Mir ist nichts aufgefallen.“
Gabriella Gil versuchte im Gesicht der Frau zu ergründen, ob sie aus Bequemlichkeit oder Pflichtgefühl gegenüber ihrem Arbeitgeber nichts sagen wollte. Suarez schaute auf die Uhr. Sie musste dringend mit der Arbeit in dem Bereich ihrer Suiten beginnen. Santos saß ihr gegenüber am Aufnahmegerät. Die Abteilung Gol verfügte über ein Computerprogramm, das die Vernehmungen verschriftlichen konnte. Das sparte Zeit beim lästigen Abtippen der Protokolle.
„Sehen Sie, Signora Suarez“, Gil sprach betont langsam, „mit dem Hotelmanager ist abgeklärt, dass Sie uns alles sagen dürfen. Wir werden die Dinge vertraulich behandeln. Keine Sorge! Doch wenn Sie nicht mit uns zusammenarbeiten, werden wir Sie mit zur Polizeistation nehmen und die Vernehmung dort fortsetzen. Dann muss die Arbeit hier jemand anderes machen.“ Die Kommissarin wusste nicht genau, ob die Botschaft bei der Frau angekommen war. An