Sie lief auf und ab. Seit dem Anruf waren schon drei Busse vorbeigekommen. Noch war kein Fahrzeug der Polícia Civil in Sicht. In der 20-Millionen-Metropole São Paulo brauchte man Geduld und gute Nerven.
Mit quietschenden Reifen hielt ein schwarzes Fahrzeug mit getönten Scheiben. Das Auto mit dem rotgrünen Wappen der Polícia Civil de Estadio São Paulo wurde von einigen Wartenden mit großem Misstrauen beäugt. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie ein Mann rasch sein Smartphone einsteckte.
Mineiro drückte sofort aufs Gaspedal und schlängelte sich durch den dichten Verkehr. Der Capitão trug seine schwarze Dienstuniform. Auf dem Rücksitz lag seine Offiziersmütze. Er schlüpfte in eine Lücke und fuhr dicht auf die Fahrzeuge auf.
„Ich bin beeindruckt. Der Anzug steht dir wunderbar.“
„Das ist nichts gegen deine Dienstuniform“, entgegnete Gil.
„Die Leute im Mariott sollen gleich wissen, mit wem sie es zu tun haben. Im Luxushotel wohnen während der Weltmeisterschaft Vertreter des Fußballweltverbandes. In der Suite des Assistenten des Generalsekretärs gab es einen Einbruch. Deshalb hat der nationale Fußballverband sich sofort an unsere Spezialeinheit gewandt. Wir sollen ermitteln.“
„Kamen Personen zu Schaden?“, fragte Gil.
Mineiro bog bei roter Ampel links ab. „Nur Sachschäden. Es ist peinlich, dass etwas entwendet wurde. Das ist Wasser auf die Mühlen der Menschen, die sagen, dass Brasilien ein Land der Verbrecher ist.“
„Dabei hat doch die Polícia Militar mit ihren Spezialkräften in den Favelas von São Paulo und Rio de Janeiro brutal aufgeräumt. Die haben sogar Panzer eingesetzt.“ Gil deutete auf das Foto, das vorne am Armaturenbrett klebte. „Ist das deine Familie?“
Mineiro lächelte wie ein sattes Baby. „Das sind meine Mädels. Meine Töchter Selena, Sofia und Martha. Und Monica, meine Frau. Du kannst dir nicht vorstellen, wie anstrengend das für mich ist, als einziger Mann im Haus. Immer krieg‘ ich alles ab, was Männer in unserem Land falsch machen. Das ist eine Menge!“
„Och, der arme Capitão.“ Sie hörte plötzlich auf zu lachen. In diesem Augenblick beneidete Gil ihren Chef für sein Glück.
Mineiro bremste. Vor ihnen stauten sich die Autos auf der zweispurigen Straße nach Osten. Etwa fünfzig Meter vor ihnen hielten Demonstranten bunte Schilder hoch. Einige Plakate forderten die kostenlose Nutzung des öffentlichen Nahverkehrs. Andere eine bessere Bezahlung für die Lehrer an öffentlichen Schulen. Auf einem Transparent, das zwei junge Frauen hoch hielten, stand „Fifa go home“.
Militärpolizisten drängten die Demonstranten von der Straße ab. Sie setzten ihre schwarzen Schlagstöcke ein.
„Das ist die neue Taktik der Demonstranten. Sie gehen nicht mehr in die Nähe der Stadien, wo es eine hohe Polizeipräsenz gibt, sondern tauchen an verschiedenen Orten der Stadt auf“, meinte Gil.
„Könnte gut sein, dass zwei meiner Töchter bei der Demo mitlaufen. Gestern gab es bei uns einen großen Streit, weil Sofia unbedingt mit ihrer älteren Schwester dabei sein wollte, und wir sie aufforderten, zur Schule zu gehen.“
„Wie alt ist Sofia?“
„Sie ist 15 und eifert ihrer großen Schwester in Sachen Rebellion bedenklich nach“, seufzte Mineiro. „Ich kann ja verstehen, dass sie gegen Korruption und Geldverschwendung auf die Straße gehen. Aber doch nicht Schule schwänzen! Meine Frau macht es wütend, wenn sie wegen solcher Sachen ihre Zukunft aufs Spiel setzen. Die Debatten bei uns zu Hause sind ganz schön hitzig.“ Er schnaufte. „Ich habe natürlich auch Angst, dass ihnen was passiert. Die Polícia Militar ist nicht zimperlich.“
Endlich waren die Demonstranten weitergezogen und ein Militärpolizist winkte die Fahrzeuge durch.
Gil war gespannt, was sie im Luxushotel erwartete.
Kapitel 4
Mittwoch, 4. Juni, 9:25 Uhr, Mariott São Paulo
15 Minuten später hielt der Capitão vor dem Haupteingang des Hotels. Ein Bediensteter in blauer Uniform fuhr den Wagen in das unterirdische Parkhaus. Die beiden Polizisten betraten durch eine Schwingtür die Eingangshalle des Luxushotels. Als Mineiro an der Rezeption seinen Dienstausweis zeigte, begleitete ein Hotelangestellter die Ermittler in den fünfzehnten Stock in Suite 2801. Im Marriot herrschte ein reges Kommen und Gehen. Gut gekleidete Männer allein oder in weiblicher Begleitung liefen zum Frühstücksraum. Fußball war eine multikulturelle und internationale Angelegenheit.
Als sie auf den Fahrstuhl warteten, sagte Mineiro: „Bei unserem Gehalt werden wir so ein Hotel nie buchen können. Es sei denn, wir gewinnen im Lotto.“
„Oder wir werden Fußballfunktionär. Da habe ich als Frau jedoch schlechte Chancen.“
„Als Funktionär sicherlich!“ Mineiro grinste. „Hast du nicht gesehen, dass einige hohe Herren in Begleitung sind? Ich möchte mal wissen, wie viele dieser Damen einen Ehering tragen.“
Auf dem Flur vor der Suite standen zwei Kollegen von der Abteilung für Raubüberfälle der Polícia Civil, die für den Stadtteil zuständig war. Der kräftigere von beiden stellte sich mit Salvator vor und führte die beiden Ermittler in die Suite.
„Wow, hier lässt sich gut leben“, flüsterte Gil. „Hier könnte locker eine brasilianische Großfamilie wohnen.“ Weiter hinten knieten zwei Männer in weißen Schutzanzügen auf dem Teppich. Einer hielt eine Lupe in der Hand, der andere assistierte mit einem Plastiktütchen. An dem großen Fenster standen zwei Männer und unterhielten sich leise. Paulo Mineiro ging zielstrebig auf die Herren im maßgeschneiderten Anzug zu.
„Guten Morgen“, begann er in Englisch. „Ich bin Capitão Mineiro, das hier ist Kommissarin Gabriella Gil. Können Sie uns schildern, was passiert ist?“
„Mein Name ist Goldberg. Ich bin der Hotel-Manager. Das hier ist Mister Frank Bernoulli, der Bestohlene. Es ist für uns eine sehr unschöne Sache. Die Täter haben den Safe aufgebrochen.“
„Wo befindet sich der Safe?“
„Der Safe befindet sich in der Kleiderkammer da hinten. Das ist die einzige Suite mit einem besonders großen Tresor. Ich führe Sie hin“, sagte der Hotelmanager.
„Dort sind unsere Leute von der Spurensicherung. Wir lassen sie erst einmal ihre Arbeit erledigen“, erwiderte Gil und wandte sich an Bernoulli: „Sie gehören zur Delegation des Weltfußballverbandes?“ Sie ärgerte sich, dass ihr Englisch so einen deutlichen Akzent hatte.
„Ich bin der Assistent des Generalsekretärs des Weltfußballverbandes. Bald beginnt die Weltmeisterschaft. Das ist für unsere Organisation und für Brasilien eine große logistische Herausforderung. Es gibt jeden Tag viel zu tun. Wir arbeiten von früh bis spät. Und nun das hier.“
„Wissen Sie schon, was Ihnen entwendet wurde“, fragte Mineiro.
Die beiden Männer sahen sich kurz an. Dann sagte Frank Bernoulli: „Der Pokal ist weg!“
„Was für ein Pokal?“, fragte Gil.
Frank Bernoulli starrte die Kommissarin an. Sein Blick schien zu sagen, hat die Frau keine Ahnung, wovon wir reden. Dann meinte der Fußballfunktionär: „Verschwunden ist der berühmte Pokal der Fußballweltmeisterschaft. Er wurde in den siebziger Jahren von dem Mailänder Künstler Silvio Gazzaniga entworfen. Diese Trophäe wird dem Sieger des Turniers des Fußballweltverbandes überreicht.“
„Natürlich kennen wir den berühmten Fußballpokal“, beeilte sich Mineiro zu sagen. „Wie groß ist denn das Ding in Wirklichkeit und was ist es wert?“
Bernoulli seufzte: „ Der Pokal ist etwa 37 cm hoch und wiegt ungefähr 5 kg. Er ist aus Gold, natürlich nicht massiv. Bei dem heutigen Goldpreis liegt der reine Materialwert des Pokals vielleicht bei 19.000