Er wartete, bis der andere im Flur verschwand, dann folgte er ihm. Der Gang führte an einer Reihe geschlossener Zimmer vorbei, erstreckte sich über die ganze Länge des Hauses und endete vermutlich an der Hintertreppe. Das hohe Tier aus dem Regierungsviertel war nirgends zu sehen. Leise fluchend überlegte er sich, hinter welcher Tür der Mann wohl verschwunden war. Es musste eine der Ersten sein. Am wahrscheinlichsten schien ihm die Tür neben dem Bild mit den Dollarzeichen. Dort stand eine antike Kommode, auf der einige Herren ihre halb leeren Sektgläser abgestellt hatten. Er ging auf die mit Zahlenschloss gesicherte Tür zu, entschlossen, anzuklopfen. Ein Geräusch hinter ihm ließ ihn herumfahren. Der angegraute Herr trat aus dem Zimmer gegenüber, das offenbar tatsächlich Kundentoiletten enthielt. Dieter Vogel starrte ihm wohl eine Sekunde zu lang ins Gesicht, denn der Schlipsträger zeigte mit finsterer Miene auf die Kommode und herrschte ihn an:
»Worauf warten Sie, junger Mann? Räumen Sie das ab, oder brauchen Sie eine schriftliche Einladung?«
Ohne ihn weiter zu beachten, klopfte er an die Tür neben der Kommode: einmal lang, zweimal kurz, einmal lang. Der Sesam öffnete sich. Er verschwand im Zimmer. Die Tür schlug zu.
Dieter Vogel erwachte aus seiner Starre. Allzu gern hätte er einen Blick ins geheimnisvolle Zimmer geworfen. Die primitive Methode, einzutreten und nach der Toilette zu fragen, funktionierte nicht mehr. Sollte er einfach verschwinden? Was hinter dieser Tür verhandelt wurde, ging ihn nichts an. Es hatte nichts mit seinem Fall zu tun, also Abgang. Das professionelle Misstrauen war stärker. Vorsichtig drückte er die Klinke der Tür zum Nebenzimmer hinunter und stürzte beinahe hinein. Bis auf einen staubigen Schrank befand sich nichts im Raum, der offenbar schon lang nicht mehr benutzt wurde. Der Schrank interessierte ihn nicht, wohl aber das schlecht schließende Fenster, durch das die Geräusche des Nebenzimmers hereindrangen. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen, ging ans Fenster und öffnete es. Hinauszulehnen und einen vorsichtigen Blick durchs offene Fenster des Nebenzimmers zu werfen, erwies sich als einfache Übung.
Das hohe Tier verhandelte mit einer älteren Dame, die er sich eher im Laden einer Tankstelle als in der vornehmen Galerie Matulis vorstellen konnte. Im Hintergrund neben der Tür stand ein weiterer Maßanzug mit Knopf im Ohr. Alle Alarmglocken des Kommissars schrillten gleichzeitig, ohne dass er sich erklären konnte, weshalb. Normale Geschäfte wurden hier nicht abgewickelt, da hätte er so ziemlich alles darauf gewettet, mit Ausnahme der Mütze mit Rummenigges Autogramm vielleicht.
Der Handel ging flott vonstatten. Das hohe Tier zückte die Brieftasche, legte zwei Fünfhunderteuroscheine auf den Tisch der seltsamen Kassiererin und erhielt dafür einen niedlichen Teddy mit goldenem Schleifchen. Ohne ein weiteres Wort verließ der Herr mit dem Teddy den Raum und zog sich wohl über die Hintertreppe zurück. Dieter Vogel schüttelte seufzend den Kopf. Es gab auch in seiner Stadt noch Dinge, die er nicht verstand, und damit meinte er nicht den Flughafen.
Seine Partnerin saß bereits im Auto, als er das Haus verließ.
»Probleme beim Wasser lösen?«, fragte sie gereizt.
Er berichtete haarklein, was er beobachtet hatte, worauf sie nur mit den Achseln zuckte.
»Mehr fällt dir dazu nicht ein?«
»Das kann doch alles Mögliche bedeuten – und was hat der Teddy mit unserem Fall zu tun?«
Er sparte sich die Antwort, steckte den Zündschlüssel ein und fuhr ab.
»Der Strafzettel steckt im Handschuhfach«, sagte sie.
Er war nicht der einzige. Einmal im Monat räumte er das Fach und warf die Zettel in den Müll.
»Hat deine Unterhaltung mit Madame Matulis wenigstens etwas mit dem Fall zu tun?«, fragte er schnippisch.
»Sie ist sich nicht ganz sicher, ob es dieselbe Waffe ist. Jedenfalls bleibt sie bei der Geschichte, die wir von Lukas Matulis kennen. Damals wurden sechs wertvolle Ikonen gestohlen, was die Versicherung eine Stange Geld gekostet haben muss.«
»Ich weiß, aber er besitzt ja noch genug von dem Zeugs, wie ich gesehen habe.«
Nachdem sie eine Weile schweigend weitergefahren waren, nahm er einen neuen Anlauf:
»In dieser Galerie stinkt etwas gewaltig. Wir sollten irgendwie an Matulis dranbleiben.«
»Wie denn? Was glaubst du, würde die Staatsanwaltschaft dazu sagen oder unser lieber Chef? Willst du unbedingt Streife fahren?«
Sie hatte ja recht – aber tausend Euro für einen kleinen Teddybären?
Sankt Petersburg, Russland
Vladimir Lukov trat ungeduldig von einem Fuß auf den andern. Die Warteschlange vor der Kasse der einzigen vernünftigen Stolowaja im weiten Umkreis wuchs schneller als er zählen konnte, dem Internet sei Dank. Die ganze Bande der Touristen schien sich in diesem einen Lokal mit hundert ›Likes‹ zu versammeln, um sich vor einer weiteren langen Nacht den Bauch für ein paar Rubel vollzuschlagen. Er dachte fast ein wenig wehmütig an die Zeit des Eisernen Vorhangs zurück, die er nur vom Hörensagen kannte. Damals gab es wenigstens keine Touristen – sonst auch nichts, aber das war eine andere Geschichte.
Die Blondine vor ihm klaubte umständlich ihr letztes Kleingeld zusammen für den Salat, der schon zu welken begann. Wozu sich ärgern? Sein Schaschlik war bereits auf dem halben Weg zur Kasse kalt geworden. Selbst das Glas mit dem Tschai fühlte sich nur noch handwarm an. Eine warme Mahlzeit innerhalb von 24 Stunden, das war eigentlich das Ziel, vor allem eine Mahlzeit, zu der man die Zähne benötigte. Ihn schauderte beim Gedanken an die faden Suppen, von denen sich seine kranke Mutter zu Hause ernährte. Sie lebte nur noch von Suppe und Papirossi, den unsäglichen russischen Zigaretten mit dem Kartonröhrchen anstelle eines anständigen Filters. Für Mamotschka spielte das leider keine Rolle mehr. Ihre Lunge musste längst schwarz sein wie eine Kohlengrube, und jetzt war auch noch Krebs im Endstadium diagnostiziert worden. Sie hustete und rauchte und fluchte nur noch in den dreißig Quadratmetern im Plattenbau, schlürfte hin und wieder etwas Suppe, die auch nach Papirossi stank, und trank Wodka, wenn sie Durst bekam. In Situationen wie dieser erinnerte er sich gerne an die trostlosen Zustände zu Hause. Das wirkte wie eine rosa Brille, durch die selbst eine hoffnungslos überfüllte Stolowaja mit kaltem Schaschlik ihren Charme versprühte.
Das Fleisch am Spieß beschäftigte seine Zähne länger als geplant. Er musste sich beeilen, um die Apotheke noch vor Ladenschluss zu erreichen. Die starken Schmerzmittel bekam er nur dort, auf Rezept und dank dem sanften Druck seines Ersatzvaters Sergei Churkin. Die Familie Churkin, für die seine Mutter jahrelang geputzt hatte, bis es nicht mehr ging, hatte ihn wie einen Sohn aufgenommen, nicht zuletzt als Kameraden für den eigenen Sohn Andrei, mit dem niemand sonst spielen wollte. Vater Churkin war ein einflussreicher und daher gefürchteter Apparatschik mit Verbindungen in höchste Regierungskreise. Das machte ihn in den Augen vieler Leute äußerst verdächtig. Man mied die Familie. Dennoch florierte sein Handelsgeschäft mit Büros an bester Lage am Petrogradskaya Damm. Jedenfalls schwamm Churkin im Geld, hatte seine Ausbildung bezahlt, kam jetzt für die Kosten der teuren Medikamente auf und war für ihn der beste Vater, den er je gehabt hatte – auch der einzige.
Die Apothekerin war dabei, das Geschäft abzuschließen, als er auftauchte. Sie gab ihm die drei Schachteln im Beutel mit dem üblichen Seufzer:
»Ihre Mutter gehört in ein Krankenhaus.«
»Ich weiß, aber auf diesem Ohr ist sie taub.«
Seine übliche Antwort. Mamotschka war noch nicht alt, viel zu jung zum Sterben, aber keine zehn Pferde würden sie in ein Krankenhaus bringen oder überhaupt aus den dreißig Quadratmetern im Plattenbau vertreiben. Sie hätte längst komfortabel und umsonst in Churkins Datscha wohnen können, aber sie hörte gar nicht hin, wenn er davon anfing.