»Ich …«
Er hatte keine Ahnung, und sein Hirn war nicht mehr zu gebrauchen. Nur der idiotische Gassenhauer drehte einsame Runden in seinem Schädel.
»Tess!«, rief eine begeisterte Stimme.
Aus dem Nichts tauchte ein fröhliches Faktotum hinter dem Rücken seiner Schönen auf. Der Mann glich verblüffend Till Eulenspiegel. Nicht nur trug er eine gelbe Narrenkappe, deren Glöckchen heiter bimmelten, auch sonst steckte sein Körper ganz in einer gelben Haut bis auf ein paar strategische Ausnahmen. Jonas traute seinen Augen nicht, als der Narr Tess ohne Vorwarnung von hinten begrapschte. Seine Hände waren gleichzeitig überall, als wäre er ein perverser Tausendfüßler.
»He, Moment mal«, protestierte Jonas, sobald er die Sprache wieder fand. »Lass das, verdammt noch mal. Ich unterhalte mich gerade mit der Dame.«
Till Eulenspiegel störte das nicht. Mit breitem Grinsen hob er den Rocksaum seiner Beute und begann stumm ihren Po zu streicheln.
»Also …«
Jonas’ Stimme versagte wieder. Wütend ballte er die Rechte zur Faust und hätte im nächsten Augenblick losgeschlagen, wäre nicht Tess’ zynische Bemerkung in seinem Kopf explodiert:
»Lass ihn«, lächelte sie. »Er braucht das.«
Dabei rutschte sie etwas weiter nach hinten auf dem Hocker, um Till Eulenspiegels Spiel mit ihrem Po zu erleichtern.
»Wo waren wir stehen geblieben?«, fragte sie, als gehörte die untere Hälfte nicht zu ihrem Körper.
Jonas’ Verstand drohte vollends auszusetzen. Er öffnete den Mund, doch der klappte unverrichteter Dinge wieder zu. Ein ersticktes Röcheln war alles, was seine Kehle hergab. Der lüsterne Till hatte die richtige Position gefunden. Er schnurrte aufdringlich wie ein alter Kater. Vor Captain Hooks entsetzten Augen verschwand der ›kleine Till‹ des Komikers zwischen den rosa Hinterbacken der Frau, mit der er doch nur reden wollte.
»Ich lass ihn nur hinten rein«, beruhigte Tess.
Das war das Zeichen zum Aufbruch. Plötzlich drückte die Blase wieder und sein Magen begehrte auf. Er würgte mit letzter Kraft den Brechreiz hinunter. Hals über Kopf flüchtete er aus der Schreckenskammer. Er wusste nicht, wie er dem ›Forstschlösschen‹ heil entkommen war, aber wenig später fand er sich auf dem Parkplatz wieder. Mit weichen Knien stand er neben Patricks Wagen und sog die kühle Nachtluft gierig in seine Lungen. Die Reaktion des Sauerstoffs mit den übrigen verruchten Gasen in seinem Innern war heftig. Er hatte kaum Zeit, sich vom Wagen abzuwenden, bevor sich sein Magen unter Krämpfen entleerte.
Die Waldluft wehte die giftigen Dämpfe langsam aber sicher aus seinem Kopf. Er begann, wieder einigermaßen klar zu denken, war jedoch schlicht zu müde, sich weiter um Patrick zu kümmern. Der fremde Autoschlüssel steckte noch in seiner Tasche, also stieg er, ohne einen weiteren Gedanken zu verschwenden, ein und fuhr Patricks Wagen durch den finsteren Forst nach Hause.
Gestüt Walpurga, Badenweiler
Der Bus passierte das Tor, über dem in schlecht lesbarer Sütterlinschrift in goldenen Lettern auf schwarzem Eisen stand, was jeder in der weiteren Umgebung des Schwarzwälder Städtchens Badenweiler sowieso wusste: ›Gestüt Walpurga‹. Der unheilschwangere Name des Holbrinck’schen Familiensitzes konnte Jonas nicht einschüchtern. Er hatte seine Walpurgisnacht hinter sich. Genau vor einer Woche war er der unbegreiflichen Tess begegnet, und seither ging sie ihm nicht mehr aus dem Kopf.
Die Einfahrt zur schlossähnlichen Anlage, die man bescheiden Gestüt nannte, führte durch ein Buchenwäldchen, um einen kleinen See herum vor einen Gebäudekomplex aus hellem, karminrotem Sandstein. Klinisch saubere Blumenrabatten säumten die ausladende Freitreppe, auf der die halbe Gästeschar des ›BWpharm‹-Sommerfestes Platz gefunden hätte. Das Haupthaus musste gut und gerne zweihundert Jahre alt sein, zeigte aber eine makellose Fassade wie der frisch rasierte Lars Brüderle frühmorgens im Büro. Auch das kleine Fußballfeld vor der Treppe, wo die sechs Busse die Belegschaft ausluden, zeigte keinerlei sichtbare Spuren früheren Gebrauchs.
»Sieht aus wie Disneyland, nicht wahr?«, spottete Patrick, der hinter ihm die Treppe hinaufstieg.
Jonas überraschte die keimfreie Umgebung keineswegs. Er kannte seinen CEO Brüderle, den aktuellen Hausherrn auf Gestüt Walpurga, inzwischen gut genug, dass er sich nur fragte, wie es hier lebendige Tiere geben konnte. Eine weitere Frage drängte sich auf in der edlen Empfangshalle mit dem spiegelglatten Parkett unter reich verzierter Stuckdecke:
»Was passiert, wenn einer der Angestellten etwas fallen lässt?«, wollte er leise von seinem Freund wissen.
»So etwas ist niemals beobachtet worden«, grinste Patrick. »Es gibt allerdings eine uralte Legende …«
»Quatsch, erzähl mir lieber, was hier abgeht.«
Nach der Exkursion ins ›Forstschlösschen‹ war er vorsichtig geworden bei Einladungen an unbekannte Orte ohne genauen Plan. Diesmal blieb ihm allerdings keine Wahl. Das Sommerfest, das der CEO großzügig auf seinem Gestüt ausrichtete, war Pflicht. Besonders für Jonas, den jungen Shootingstar der Brüderle’schen Drogenküche. Seine Abwesenheit wäre wohl zuerst aufgefallen. Vielleicht ließ Lars die Angestellten mit Bussen herankarren, damit keiner unterwegs die Fliege machte. Vielleicht aber auch nur, damit nicht bunte Privatautos die strenge Ordnung auf dem Parkplatz störten.
Ein Schwarm schwarz uniformierter Serviererinnen mit weißen Spitzenhäubchen und Schürzchen reichte badischen Weißwein in kleinen Gläsern und Wasser in großen.
»Den Wein solltest du langsam trinken«, warnte Patrick flüsternd. »Nach drei Gläsern ist Schluss. Die führen Strichlisten.«
Jonas blickte ihn verdutzt an. »Das meinst du nicht ernst.«
Patrick meinte es ernst.
»Du leidest unter schwerem Verfolgungswahn«, stellte Jonas kopfschüttelnd fest.
Er leerte das embryonale Achtele in einem Zug und schnappte sich das nächste von einem Tablett in der Nähe.
Lars Brüderle begnügte sich mit einer überraschend kurzen Ansprache. Bald strömten die Gäste in den Park hinter dem Haus, in das Bierzelt, wo es zwar kein Fassbier gab, aber reichlich Schinken und eine bayrische Blaskapelle aus Stuttgart. Es war eine Art protestantisch nüchternes Oktoberfest, das der CEO hier zelebrierte. Die Unterhaltung an den langen Holztischen wurde dennoch schnell lauter und ausgelassener. Nicht einmal der obligatorische, gruppenweise Besuch der Stallungen vermochte die gute Stimmung merklich zu trüben. Da er die meisten Anwesenden nur vom Sehen kannte, benutzte Jonas die Gelegenheit, mit möglichst vielen Unbekannten ein paar Worte zu wechseln. Ganz im Sinne des Gastgebers, nahm er an. Womit sollte er seine Zeit auch sonst totschlagen?
»Wir holen die Kohle rein, die alle andern hier ausgeben«, prahlte einer vom lautesten Tisch unter beifälligem Gejohle seiner Kolleginnen und Kollegen.
»Wie macht ihr das?«, fragte Jonas naiv.
»Wir verkaufen, und zwar gnadenlos.«
Gelächter am Tisch.
Jonas spielte weiter den Unbedarften: »Was verkauft ihr denn so?«
»Na was wohl! ›CAVAXIN‹, ›XORACIN‹, ›LIPEXIN‹, was immer wir unsern lieben Kunden andrehen können.«
»Ach so«, seufzte Jonas scheinbar erleichtert. »Ihr verkauft die Medikamente, die wir produzieren. Ich fürchtete schon, ihr handelt mit Drogen.«
Die Lauten krächzten vor Vergnügen. Jonas verließ den Tisch der gnadenlosen Verkäufer. Er war zufrieden mit der Art, wie er sich bei ihnen eingeführt hatte. Mit der Zeit erschwerte die stickige Luft das Atmen. Draußen vor dem Jubelzelt verpesteten die Raucher die Landluft. Auch das brauchte er nicht. Der Zigarettenrauch trieb ihn immer weiter weg vom Festvolk. Unvermittelt fand er sich allein vor dem Stall, in dessen