Zehn Minuten später saß sie in ihrem blauen E-Klasse-Cabrio, unterwegs nach Freiburg. Sie fuhr direkt zur ›BWpharm‹. Das Bürogebäude, in dem Jonas und Lars arbeiteten, betrat sie zum ersten Mal.
»Wo finde ich Dr. Herzog?«, herrschte sie die Empfangsdame an, ohne sich vorzustellen.
»Wen darf ich melden?«, fragte die Angestellte höflich. Erst auf den zweiten Blick erkannte sie, wer vor ihr stand. »Oh mein Gott«, murmelte sie erschrocken. »Entschuldigen Sie, Frau Brüderle, nur einen Augenblick.«
Hastig griff sie zum Telefon, wählte und sprach so leise in den Hörer, dass Tess nur ihren Namen verstand.
»Sie werden gleich abgeholt«, versicherte die Dame mit einem nervösen Blick zu den Aufzügen.
Tess brauchte nicht lange zu warten. Mittlerweile nagten keine Selbstzweifel mehr an ihr, nur noch die Stinkwut auf Jonas. Eine Lifttür öffnete sich mit heiterem Glockenton, als frohlockte sie: Seht her, hier ist er. Sie war bereit, sich auf den Mann zu stürzen, der ihr neues Elend zu verantworten hatte – und stutzte. Lars trat aus dem Aufzug.
»Tess, welche Überraschung«, grüßte er ganz ohne überflüssiges Lächeln.
»Wo ist er?«, schnauzte sie ihn an, als steckte er mit seinem Nebenbuhler unter einer Decke.
»Wen meinst du, meine Liebe?«
Seine geschwätzige Ausdrucksweise stieß ihr sauer auf. Ein simples »Wer?« hätte genügt, aber auch das wäre zuviel gewesen, denn er wusste ganz genau, von wem sie sprach.
»Jonas, verdammt noch mal«, rief sie zornig.
»Wir sollten das im Büro besprechen.«
Ihr unerwartetes Erscheinen und der laute Auftritt schienen den perfekten Lars erheblich zu verunsichern. Vielleicht war sie ihm einfach nur peinlich. Auch gut.
Er trat einen Schritt auf sie zu und flüsterte eindringlich: »Mach hier bitte keine Szene.«
»Ich will dir deine kostbare Zeit nicht stehlen. Sag mir einfach, wo ich Jonas finde.«
Er zeigte fast flehend auf den Lift. »Fahren wir nach oben – bitte.«
Sie blickte weder links noch rechts, erwiderte keinen Gruß, während sie ihm zu seinem Büro auf der obersten Etage folgte. Sobald die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel, änderte sich seine Haltung. Sein Gesichtsausdruck verhärtete sich. Stumm bot er ihr Platz an auf dem Sofa, wo sonst die Besprechungen mit dem privilegierten Personal stattfanden.
Sie blieb stehen, fragte noch einmal: »Wo ist er?«
Sein kalter Blick streifte sie. »Was willst du von Hook?«
Sie sparte sich Ausflüchte, um nicht Gefahr zu laufen, dass ihr Ärger verrauchte. »Gratuliere zu deiner Kombinationsgabe, Sherlock Holmes«, entgegnete sie trocken.
Er zeigte keine Regung. Seine nächste Frage traf sie unerwartet und genau in ihre blutende Wunde: »Hat er dich versetzt?«
Genauso gut hätte er ihr die Faust in den Magen rammen können. Ihr Atem stockte und der Schmerz fuhr ihr in die Glieder, dass sie sich doch noch setzen musste.
»Was weißt du schon«, wisperte sie schließlich tonlos.
»Du wirst verstehen, dass ich deiner Beziehung mit meinem Angestellten Herzog nichts Positives abgewinnen kann. Aber ich sehe, wie du leidest …«
»Einen Scheiß siehst du! Du hast keinen Schimmer, wie es in mir drin aussieht.«
»Mag sein«, gab er zu, »aber hast du dich nie gefragt, warum er sich an dich herangemacht hat?«
»Jonas hat sich nicht an mich rangemacht«, brauste sie auf. »Er hat …«
»Er hat dich ausgenutzt. Er hat bekommen, was er wollte. Jetzt braucht er dich nicht mehr. Je eher du das begreifst, desto besser für dich.«
Sie fand keine Worte, starrte ihn nur hilflos an. Seine nüchtern vorgetragene Anschuldigung schmerzte so sehr, dass sich alles in ihrem Kopf zu drehen begann. Jonas hatte sie geliebt, das wusste sie. Kein Mann kann eine Frau so täuschen. Ausgenutzt? Unmöglich. Sie waren glücklich.
Lars hieb gnadenlos weiter in die Bresche: »Was hat er in der Bibliothek gesucht? Hast du dir das mal überlegt? Er hat dich doch in der Bibliothek beglückt, nicht wahr?«
»Hast du heimlich zugesehen? Hat’s Spaß gemacht?«
Sie war außer sich. Weniger wegen seiner emotionslos vorgetragenen Anklage, als wegen der treulosen Dienstboten auf Gestüt Walpurga. Woher sonst sollte Lars von ihrem Abenteuer in der Bibliothek erfahren haben?
»Auf jeden Fall war jemand an meinen Papieren, und ich denke, du weißt genau, wen ich meine.«
»Lächerlich!«, rief sie entrüstet aus und sprang auf.
Sie versuchte krampfhaft, sich an Einzelheiten der Nacht in der Bibliothek zu erinnern. So sehr sie sich auch anstrengte, ihr Gedächtnis gab nur das alles überstrahlende Gefühl preis, das sie mit den glücklichen Stunden verband: der erfrischende Schock, seit Langem wieder richtig zu leben in einem Rausch bedingungsloser Hingabe, der ihr manchmal beinahe die Besinnung raubte. Wie sollte sie sich da gemerkt haben, was sonst noch geschah in jener Nacht?
»Offenbar hat er gefunden, was er suchte«, fuhr Lars unerbittlich fort, »sonst hätte er dich nicht fallen lassen. Mach endlich die Augen auf, Tess. Er ist es nicht wert. Wer weiß, was er noch alles im Schilde führt. Wir beobachten ihn sehr genau.«
Die Ungeheuerlichkeit dieser nüchternen Feststellung schnürte ihr die Kehle zu. Blass, mit versteinerter Miene, vermochte sie nur ihre Frage zum dritten Mal herauszuwürgen: »Wo ist er?«
»Nicht im Haus.«
Lars beugte sich vor, versuchte ihr in die Augen zu schauen, doch sie erwiderte seinen Blick nicht, sah durch ihn hindurch.
»Tess, lass es, ich flehe dich an. Komm, ich fahre dich nach Hause.«
»Welches Zuhause?«, murmelte sie tonlos.
Sie drehte sich auf ihren Absätzen und ging. An der Tür versuchte er, sie aufzuhalten. Sie stieß ihn weg wie einen Müllsack, der den Weg versperrt.
»Dr. Herzog«, rief die Empfangsdame aufgeregt, als Jonas den Aufzug betreten wollte.
Erstaunt trat er an ihr Pult. »Ja?«
Sie erhob sich, beugte sich vor, um leise sprechen zu können. »Entschuldigen Sie, Dr. Herzog, ich glaube, ich habe einen schrecklichen Fehler gemacht.«
Die Dame machte einen verstörten Eindruck. »Was ist passiert?«, fragte er mit einem Lächeln, das sie beruhigen sollte.
»Frau Brüderle – ach Gott, es tut mir so leid.« Sie musste erst Atem schöpfen, bevor sie weitersprechen konnte. »Frau Brüderle war hier und …«
»Hier, in der Firma?«, rief er überrascht.
»Ja, sie kommt sonst nie hierher. Sie schien sehr aufgebracht und hat verlangt, Sie zu sehen. Da Sie nicht im Haus waren, habe ich Dr. Brüderle gebeten …«
»Oh mein Gott. Mich wollte sie sprechen?«
»Ja,