Er dachte nicht an diese hoffnungslose Zukunft, als er an diesem kalten Morgen, später als sonst, an der uralten Linde vorbei die Herrengasse hinauf schritt zum Stadtgarten, hinter dem das Gelände der ›BWpharm‹ lag. Fröstelnd schlug er den Mantelkragen hoch, um die eiskalten Ohren zu wärmen. Die Rollläden der Geschäfte waren hochgezogen, stellte er erstaunt fest. Wenn er sonst hier vorbeikam, brannte höchstens im Bäckerladen Licht und das Wasser im Bächle war sein einziger Begleiter. Er war wirklich spät dran. Zu spät für die Sitzung beim CEO. Es spielte keine Rolle mehr. Die mutierten Bakterien produzierten den ›XORACIN‹-Wirkstoff auch ohne ihn. Die kritische Phase war überwunden, das Projekt ein Selbstläufer. Seine Gedanken beschäftigten sich nun mit einem ganz andern Projekt, dem wichtigsten seines jungen Lebens. Er musste Tess aus ihrer Isolation befreien. Sein Herz ließ ihm keine andere Wahl. Später bliebe noch genügend Zeit, sich mit der Zukunft zu befassen.
»Lars will dich sprechen«, sagte Patrick zur Begrüßung, als er die Tür zum Büro öffnete.
»Dr. Brüderle möchte dich sprechen, sofort«, verkündete seine Sekretärin mit forschendem Blick, kaum hatte er den Mantel aufgehängt.
»Ich weiß. Irgendeine Vermutung, was er will?«
Sie schüttelte den Kopf. »Es klang nur ziemlich dringend.«
»Ist Hauser bei ihm?«
Wieder Kopfschütteln. »Dr. Hauser hat einen Kundentermin.«
Sie musste es wissen, denn sie kontrollierte auch Hausers Terminkalender. Brüderle wollte ihn also persönlich unter vier Augen sprechen. Etwas beunruhigt betrat er das Büro des CEO.
»Sie sind ja doch da, gut«, stellte Brüderle trocken fest. Es war kein Vorwurf, nur eine deutliche Frage.
Jonas hustete rau, bevor er seine vorbereitete Antwort vorbrachte. Er laberte etwas von aufziehender Erkältung und erhöhter Temperatur.
»Ich gehe davon aus, dass Sie nicht einfach verschlafen haben«, bemerkte Brüderle ohne einen Anflug von Ironie.
Jonas stand der Sinn nicht nach Konversation. »Sie wollten über die ›XORACIN‹-Zulassung sprechen?«, vermutete er, um die Sache abzukürzen.
»Da machen Sie sich mal keine Sorgen. Diese Sache ist auf gutem Weg. Schließlich bleibt das Prozedere sozusagen in der Familie.«
»Wie darf ich das verstehen?«
»Staatssekretärin Trauttmannsdorff im Gesundheitsministerium heißt mit vollem Namen Margarethe von Holzbrinck-Trauttmannsdorff.«
»Sie ist die …«
Jonas stockte erschrocken. »Mutter von Tess«, lag ihm auf der Zunge. Im letzten Moment korrigierte er die Frage:
»Die Gattin des Patrons?«
Brüderle nickte.
»Verstehe«, schmunzelte Jonas. »Praktisch.«
Der CEO reagierte mit keiner Faser auf die ironische Bemerkung, jedenfalls nicht äußerlich. Für ihn war die enge, familiäre Beziehung zum wichtigen Gesundheitsministerium in Berlin nichts weiter als eine geschäftliche Notwendigkeit.
Brüderle kehrte zum Sachthema zurück: »Dr. Hauser bestätigte mir in der Sitzung, dass Sie den Terminplan einhalten können. Ist das so?«
»Absolut. Der Meilenstein wird eingehalten, sofern keine weiteren Anforderungen aus Berlin eintreffen.«
Brüderle schüttelte energisch den Kopf. »Das wird nicht geschehen.«
Jonas versuchte es nochmals mit Ironie: »Die Wissenschaft hat ihren Zweck erfüllt. Somit werde ich bald arbeitslos sein«, lächelte er.
Diesmal reagierte Brüderle, allerdings nicht so, wie er erwartete: »Das hängt ganz von Ihnen ab«, meinte er.
Jonas sah ihn verständnislos an.
»Ich meine, ob Sie arbeitslos werden, liegt ganz bei Ihnen«, wiederholte Brüderle und beobachtete ihn dabei mit dem Pokerface des beinharten Anwalts.
»Gibt es Beschwerden über meine Arbeit?«
»Mir nicht bekannt. Wir alle hier schätzen Ihre Arbeit«, versicherte Brüderle.
»Dann kann ich ja beruhigt sein«, murmelte Jonas ärgerlich. Er war des Rätselratens müde und wandte sich zum Gehen. »War das alles, Dr. Brüderle?«
Die Audienz war keineswegs zu Ende. Mit der stets gleichen, undurchdringlichen Miene stellte Brüderle die Frage, die Jonas zuletzt aus seinem Mund erwartet hätte:
»Was sagt Ihnen der Name Hook?«
Die Zeit blieb stehen. Seine Kinnlade fiel herunter, dann bewegte sich gar nichts mehr. Erst als er wieder Sauerstoff in den Lungen brauchte, begann sich die Erde langsam weiterzudrehen.
»Hook? Ich – weiß nicht …«, stotterte er.
»Sie müssen diesen Hook ganz gut kennen«, stellte das Pokerface ruhig fest. »Hook sendet nämlich laufend anzügliche SMS unter Ihrer Handynummer an meine Frau.«
Jonas schoss heißes Blut in den Kopf. Er musste glühen vor Schamröte. Sprachlos wie ein ertappter Erstklässler vor dem Lehrer, stand er vor seinem obersten Chef. In Sekundenschnelle wandelte sich die Scham in Zorn. Zorn über seine eigene Dummheit, über Brüderles Dreistigkeit, mit der er offenbar seine Frau überwachte, obwohl die Ehe nur auf dem Papier bestand, und Wut über das beschissene Leben seiner Tess auf dem unseligen Gestüt Walpurga. Der ganze Dreck wäre aus ihm herausgebrochen, hätte nicht Brüderle in diesem Augenblick zu seinem eindringlichen Monolog angesetzt.
»Hook muss eines wissen«, sagte er mit Grabesstimme, ohne auch nur einen einzigen unnötigen Gesichtsmuskel zu bewegen. »Meine Frau Theresa ist psychisch sehr labil. Sie sucht manchmal die Nähe anderer Menschen, fremder Männer, weil sie krankhaft unsicher ist. Sie sucht Bestätigung. Findet sie diese nicht, geschieht die Katastrophe. Schon mehrmals hat sie sich kaum mehr von diesen Schocks erholt. Es ist eine Krankheit, gegen die es keine Pille gibt. Man kann nur vorbeugen, indem man sie in ihrer eigenen Welt in Ruhe lässt, verstehen Sie? Sagen Sie das diesem Hook. Und noch etwas: Sollte ich feststellen, dass Theresa wieder auf eine solche Katastrophe zusteuert, werde ich den oder die Verantwortlichen mit der ganzen Härte des Gesetzes zur Rechenschaft ziehen. Ich bin Anwalt. Ich kenne mich aus. Sagen Sie auch das Ihrem Freund Hook. Das ist alles.«
Brüderle nahm die Unterschriftenmappe aus dem Eingangskörbchen und setzte seine tägliche Routinearbeit fort, als wäre er nie unterbrochen worden.
Jonas konnte keinen klaren Gedanken fassen, fand kaum den Ausgang und torkelte den Korridor hinunter zu den Aufzügen wie ein angezählter Boxer, der sich kaum auf den Beinen halten kann. Es war der Tag, an dem er zum ersten Mal einen Anruf von Tess nicht entgegennahm und keine ihrer Kurznachrichten beantwortete. Seine Zukunft begann früher, als ihm lieb war.
Gestüt Walpurga, Badenweiler
»Soll ich den Kaffee auftragen, Madame?«
Tess blinzelte, schloss die Augen sofort wieder. Das grelle Licht tanzte weiter in ihrem Schädel, als freute es sich über ihren elenden Zustand. »Wie spät ist es?«, ächzte sie heiser mit trockenem Mund.
»Drei – Sie haben geklingelt.«
Sie tastete nach dem Flachmann auf dem Nachttischchen. »Leer«, murmelte sie und hielt der Bediensteten die Flasche hin.
»Soll ich das Bad einlassen, Madame?«
Sie drehte sich auf die andere Seite, gab einen Laut von sich, den das Dienstmädchen als Ja verstand, und vergrub den Kopf im Kissen. Das Rauschen des Wassers drang gedämpft in ihr Ohr. Es hörte sich an, als liefe die neu gewonnene Lebensfreude in einem Sturzbach aus ihrem Körper. Der alte Schnapsnebel