Ein viertes Mal brauchte er nicht nachzuzählen. Sicherer als sicher ging nicht. Die alles entscheidende Studie erwies sich schlicht als Betrug. Helbling hatte die Statistik zugunsten der Familie frisiert, indem er eine Menge unangenehmer Daten einfach nicht berücksichtigte. Wahrscheinlich nicht er selbst, aber die Unterschrift auf den Dokumenten stammte von ihm. Jonas nahm sich eine unruhige Nacht und einen langen Spaziergang am Rheinufer im Morgengrauen Zeit, bevor er sich entschloss, den Professor mit seiner Entdeckung zu konfrontieren. Er musste es tun, sonst würde er zum schuldigen Mitwisser.
Wie erwartet, erinnerte Helbling sich erst nicht an eine Studie mit der Bezeichnung ›RCT-0319‹.
»0319 – das muss schon Jahre her sein«, lächelte er. »Was ist damit?«
Das überlegene Lächeln erstarb, als er seine Unterschrift auf der Zusammenfassung sah. »Warum interessiert Sie das?«, fragte er ungeduldig.
»Ich wollte diese Dokumentation als Muster für ›BSX10‹ benutzen, aber die Studie ist falsch.«
Jonas benutzte absichtlich nicht das Wort gefälscht, das Helbling als direkten Vorwurf empfinden müsste. Diese Nuance hätte er sich sparen können. Helbling fuhr aus seinem Sitz wie der Basilisk aus seinem Loch am Gerberbrunnen.
»Was erlauben Sie sich!«, fauchte er wütend.
»Entschuldigung, ich mache niemandem Vorwürfe. Ich stelle nur eine Tatsache fest.«
Helbling kam noch mehr in Fahrt. »Es geht Sie einen feuchten Kehricht an, was in dieser alten Studie steht, Herr Dr. Herzog. Machen Sie einfach Ihre Arbeit und lassen Sie mich mit diesen wilden Behauptungen in Ruhe. Falsche Studie – dass ich nicht lache. Dieses Medikament ist schon seit sechs Jahren auf dem Markt.«
Nicht der ausfallende Ton Helblings verletzte Jonas zutiefst, sondern die Tatsache, dass er gerade zugegeben hatte, sich genau an den Schwindel zu erinnern. Der Professor erkannte seinen kapitalen Fehltritt nur wenige Augenblicke später. Langsam sank er auf den Stuhl zurück, musterte seine gespreizten Finger auf der Tischplatte eingehend, dann warnte er mit bebender Stimme:
»Erinnern Sie sich an unser erstes Gespräch? Wir bei ›Bernoulli‹ sind eine große Familie.«
»Aber …«, unterbrach Jonas, doch Helbling sprach unbeirrt weiter:
»Wir halten zusammen. Es ist ein großes Privileg, für ›Bernoulli‹ zu arbeiten. Mir scheint, Sie legen keinen Wert auf weiteren Familienanschluss. Habe ich mich klar ausgedrückt?«
Der zweite Riss im Druckbehälter. Kein Haarriss wie der erste. Dieser Riss war kaum mehr zu kitten.
»Sie können mich nicht rauswerfen, weil ich …«
»Oh doch, ich kann, glauben Sie mir. Aber wer spricht denn von Rausschmiss? Sie verlassen uns freiwillig, aus familiären Gründen zum Beispiel, kassieren eine fette Abfindung, und wir vergessen die ganze Geschichte.« Helbling hatte sein überlegenes Gleichgewicht wiedergefunden. Freundlich lächelnd fügte er hinzu: »Sie streben doch auch kein Verfahren wegen Verschwendung von Forschungsgeldern an, oder irre ich mich?«
Unkittbar, definitiv.
Jonas fasste den Entschluss noch, bevor die Tür zu Helblings Büro hinter ihm zufiel.
»Potz Heidenblitz«, war die vorhersehbare erste Reaktion seines Freundes Niklaus, als er von der Geschichte erfuhr.
Sie saßen im Garten des ›Löwenzorn‹. Um sie herum breitete sich eine Zone bedrückten Schweigens aus, in die das fröhliche Geschnatter der übrigen Gäste und das Klappern des Geschirrs nur gedämpft eindrangen. Selbst die Spatzen machten einen Bogen um ihren Tisch, um sie nicht zu stören in ihrer stillen Trübsal. Lange schwiegen sie sich an, bis Niklaus nach Luft schnappte und nochmals seufzte:
»Potz Heidenblitz, Jonas.« Langsam schüttelte er den Kopf, als hinge eine schwere Senntumschelle an seinem Hals. »Warum musstest du dem Alten auch unbedingt seine Fehler unter die Nase reiben?«
»Also hör mal …«
»Ich weiß, das Gewissen. Verstehe ich ja, trotzdem …«
»Ist eh zu spät. Sinnlos, sich darüber zu ärgern.«
Ihre Gläser waren noch nicht leer. Dennoch winkte Niklaus die Bedienung herbei. »Noch zwei Stangen«, murmelte er gedankenverloren.
»Tut mir leid für meine Leute«, sinnierte Jonas. »Wir hatten eine tolle Zeit.«
»Hört sich an, als wären wir zusammen in Urlaub gefahren.«
»Vielleicht sollten wir das tun. Scheiße.« Jonas horchte eine Weile in sich hinein, dann lachte er unvermittelt auf und sagte: »Ich bin schon ein ausgemachter Trottel, was?«
Die Knopfaugen musterten ihn fast mitleidig. »Du bist jung«, stellte Niklaus fest, als erklärte das alles. Er leerte das halbe Bier in einem langen Zug, brach ein Stück des angebissenen Grissini ab und streute die Brösel auf den Boden, um doch noch einen Spatz anzulocken. »Was wird jetzt aus dir?«, wollte er wissen, ganz der besorgte Vater.
Jonas zuckte nur die Achseln. An seine Zukunft hatte er noch nicht gedacht. Wie auch, solange er mit der Gegenwart nicht fertig wurde.
»Du könntest es machen wie Hauser.«
»Hauser? Ach, mein unseliger Vorgänger.«
»Unselig ist er wohl nicht. Er scheint sich gut eingerichtet zu haben in Freiburg.«
Jonas rümpfte die Nase. »Freiburg.«
»Freiburg im Breisgau meine ich. Schöne Altstadt, nette Leute, gute günstige Beizen. Hab den Hauser schon ein paar Mal besucht. Ist ja nur ein Katzensprung von Basel.«
»Deutschland – gutes Bier – warum nicht.«
»Sag ich doch. Ich könnte ein gutes Wort für dich einlegen, falls du das willst.«
Jonas schüttelte lächelnd den Kopf. »Danke, aber lass mal. Ich glaube, durch das Feindbild Helbling verbindet uns genug. Du kannst mir ja Hausers Koordinaten geben.«
Kapitel 2
Freiburg
Hauser war ein gealterter Dandy, das genaue Gegenteil dessen, was sich Jonas unter seinem Vorgänger vorgestellt hatte.
»Unsere Farm ist eine Generika-Klitsche, kein Elfenbeinturm für verwöhnte Grundlagenforscher«, stellte er gleich am Anfang klar.
Mit Farm meinte er wohl seine Firma ›BWpharm AG‹. Jonas ließ sich nicht abschrecken. Immerhin hielt es Hauser als früherer ›Bernoulli‹-Forscher schon fast drei Jahre beim Freiburger Generika-Produzenten aus. Mehr als das: Er war verantwortlich für die gesamte Entwicklung.
Die Rechte eingehakt im faltenlosen Gilet wie Napoleon auf Davids berühmtem Bild, wartete Hauser auf seine Reaktion.
»Der kleine Unterschied ist mir durchaus bewusst«, antwortete Jonas und hielt sich für besonders witzig.
Hauser musterte ihn skeptisch, bis sich sein Mund plötzlich zu einem spöttischen Grinsen verzog. »Nun ist unser Freund Helbling also wieder am gleichen Punkt angelangt«, freute er sich. »Am Ende muss der Ärmste wieder selber arbeiten. Nun – für die Basler Kunstszene wäre es ein echter Gewinn, wenn er ihr fernbliebe. Er versteht von zeitgenössischer Kunst etwa soviel wie ich von Fußball, nämlich gar nichts.«
Ein bitterer Unterton störte seine Ironie. Der Wegzug aus Basel schien Hauser doch mehr