Ein weiterer Grund dafür, dass Integration nicht nur nicht stattfinden kann, sondern auch in Zeiten der wiederkehrenden Gefahr nicht stattfinden soll, ist der, dass durch Integration narrative Erinnerungen entstehen, die sich mit der Zeit und unserer Entwicklung verändern. Wenn Reize, die Überlebens-Kettenreaktionen auslösen, sich aber durch Integration und Verblassung verzerren würden, wären sie für das Überleben nicht mehr nützlich. Darum müssen sie akut bleiben, darum können wir es nicht einfach glauben, wenn es heißt: „Es ist schon vorbei“, weil das ein aktiver Lernvorgang ist, den einzelne Instanzen/Anteile durchlaufen müssen. Dies braucht gewisse Voraussetzungen, denn wir lernen durch Erfahrung, und um diese möglich zu machen, braucht es unglaublich viel Mut, weil wir uns und unserem Leben eine Chance geben, Interesse, weil wir sonst ja nichts Neues erfahren können, und irgendeine Art von Anliegen im Leben, um all diese Kräfte, entgegen der evolutionären Energieersparnis-Impulse, aktivieren zu können.
Etwas zu lernen, bedeutet im Allgemeinen, dass unser Nervensystem Informationen aus einer Erfahrung speichert, die beim nächsten Mal unser Verhalten beeinflussen. Dank unserer Neuroplastizität können sich Synapsen an ihre Beanspruchung anpassen. Die Axone viel beanspruchter Verknüpfungen breiten ihre Endköpfchen aus und verbessern ihre Übertragungsstärke. Sie wachsen sozusagen und werden sensibler, damit Informationen einfacher/effizienter übertragen werden können. Des Weiteren lernen wir auch mit der/durch die weiße Substanz, durch welche das Gehirn quasi seine Nervenleitgeschwindigkeit an Lernerfahrung anpasst. Daraus schließt sich, dass Lerninhalte durch Wiederholung gefestigt werden und zudem die Synapsen sensibler werden, also schon bei kleineren Aktivierungen Informationen übertragen.
Die oben beschriebene Bewusstseinsverminderung, der Tunnelblick oder das Verlorengehen im eigenen Kopf, wenn alles zu viel und anstrengend ist, ist oft auch ein Teil von traumaassoziierter Dissoziation. Hier werden Wahrnehmungen allerdings gar nicht erst richtig aufgenommen bzw. so gespeichert, dass sie nie für den Verstand zu entziffern sein werden. Das macht Amnesien für diese Momente auf kognitiver Ebene unauflöslich, weil das Geschehen gar nicht tatsächlich wahrgenommen wurde. Es war wer da, der_die die Sinneswahrnehmung so eingeschränkt hat, dass gar nichts aufgenommen wurde, was hätte abgespalten werden müssen. Passiert ist es trotzdem und es ist auch da, die Empfindungen sind irgendwo im Körper, jedoch nicht beschreibbar. Ein grundlegender Unterschied zwischen diesen beiden Spektren ist also der Zustand unseres Nervensystems im Moment der Dissoziation: Handelt es sich primär um Energieersparnisse oder um eine ganz akute Überlebensstrategie.
5.3 Erinnerungen und Trigger
Laut Brauns BASK-Modell findet das Erleben von Menschen in nicht dissoziativem Zustand, außerhalb einer traumatischen Situation auf vier Dimensionen statt:
Behaviour (Verhalten): Wie verhält sich wer, und was passiert?
Affects (Affekt): Welche Erregung findet statt, wie ist mein seelischer Zustand?
Sensations (Körperempfindungen): Was sehe, höre, rieche, schmecke, fühle ich? Habe ich Gleichgewicht, vibriert etwas, was spüre ich, wie ist die Temperatur?
Knowledge (Wissen): Was denke ich über die Umweltkonstellation, mich und andere Personen?
(Es gibt Erweiterungen davon bzw. Modelle, welche genauer differenzieren, aber grundlegend geht es immer um diese Bereiche.)
Ein Mensch erinnert sich also an verschiedene Ebenen, wenn er_sie etwas erzählt, weil alle Hirnareale, in denen verschiedene Teile dieser Erinnerung abgespeichert sind, zusammenarbeiten bzw. verknüpft sind. Denn verschiedene Aspekte einer integrierten und dadurch zusammengehörigen, Erinnerung sind in verschiedenen Hirnarealen gespeichert. Eine Erinnerung liegt nicht als ein Bündel an einem Platz im Gedächtnis. Was aber kein Problem ist, solange der Hippocampus den Überblick bei der Sortierung behält. Das sogenannte „Seepferdchen“ (es lässt sich darüber streiten, wie sehr dieses eingerollte Stück Cortex einem Seepferdchen ähnelt) spielt nämlich das Ordnungsamt, wenn es um die Archivierung von Gedächtnisinhalten im Langzeitspeicher geht. Dann weißt du, dass es (dir) passiert ist, und kannst parallel abrufen, was passiert ist, in welchem Kontext, was du gedacht/gefühlt hast, vor allem kannst du selbst daran denken und Dinge gezielt abrufen. Das sind narrative Erinnerungen, die sich verändern und angepasst werden (können), was ohnehin immer mehr oder weniger bewusst passiert, je nachdem, wie es die geht, in welcher Lebensphase du daran denkst, mit wem du Erinnerungen teilst. Narrative Erinnerungen verändern sich mit uns, denn sie werden beim Abrufen rekonstruiert.
Das funktioniert bei dissoziierten Traumaerinnerungen nicht ganz so. Sie werden aktuell, jedes Mal, wenn sie getriggert werden und durch ihre Gegenwärtigkeit verändern sie sich nicht, solange sie nicht integriert sind. Traumatische Erinnerungen bilden durch die Fragmentierung kein Narrativ, sondern bleiben in einzelne Aspekte getrennt. Durch die fehlende Integration und die Hemmung des Hippocampus haben traumatische Erinnerungen keinen Erinnerungscharakter. Wir nehmen sie als akute Empfindung wahr. Tatsächlich reproduziert unser Nervensystem die Reize, wodurch die physischen Empfindungen echt sind. Das, was als Körpergedächtnis bezeichnet wird. Ausgelöst werden solche Intrusionen oder Flashbacks durch Trigger, welche konditionierte Reize darstellen. Jedoch unterscheidet unsere Großhirnrinde, wie in der Konsolidierung von Gedächtnisinhalten, nicht zwischen „echt“ und „reproduziert“. Das erklärt vielleicht auch, weshalb wir, wenn sich Anteile melden/Erinnerungsschnipsel auftauchen, wir nicht direkt in Sympathie zu ihnen stehen, auch wenn es alles für den Weg in Richtung Integration und mehr Halt ist. Auch weil es erst einmal noch weniger Kontrolle ist, weil wir uns der Kontrollverluste gewahr werden, was ein sehr verunsicherndes Chaos schafft, welches sich nicht anfühlt, als wären wir dabei, Selbstbestimmung für unser Leben zu erstreben. Keine Sympathie, weil sie uns schreckliche/eklige/verbotene Emotionen und Schmerzen „(wieder)bringen“, für die es zunächst keinen Grund oder Auslöser gibt. Das sind dann „positive“ dissoziative Symptome, weil etwas addiert wird. Diese Additionen sind die Intrusionen, die Zeichen, die sie uns schicken. Einzelne Aspekte, die Anteile durch die Mauer der Amnesie lassen und sie so ins Bewusstsein kommen. Es war also schon da, nur nicht zugänglich, Intrusionen sind nichts, was nur durch „Fehlmeldungen“ im Gehirn aus dem Nichts halluziniert wird.
Die vier Dimensionen sind also voneinander getrennt. Der Hippocampus war aufgrund der zu hohen Stressbelastung nicht mehr gefragt und Erinnerungen wurden nicht passend beschriftet. So sind Anteile, die in der traumatischen Situation aus Angst entstanden, oft im Moment bzw. Kontext erfroren. Sie sind voller Schmerz oder Gefühl, sind in dem Kontext steckengeblieben. Sie hängen in Dauerschleife dort fest und mit der Integration ist es unsere Aufgabe, sie davon zu entlasten, indem wir verstehen können, was wir all die Jahre nicht wussten. Die dissoziativen Amnesien sind ein Teil dessen, was uns andauernd Kontrolle nimmt. Jedenfalls denke ich oft, auf dem Weg zu erlebter Selbstwirksamkeit alles zu verlieren, weil ich jetzt die Zeitverluste bemerke, was ich früher nicht tat, und nie mit Sicherheit sagen kann, was wir getan haben oder was in den nächsten Minuten mit uns passieren wird. Ebenso verunsichernd ist der Verlust von dem, was ich dachte, es sei unsere Geschichte. Das Bemerken von all diesen Lücken, von den verzerrten Erinnerungen. Unsere Biografie ist ein Buch, in dem unzählige Seiten verändert, überklebt oder herausgerissen wurden, von deren Verlust wir jedoch nie wussten. Wir haben das Vergessen vergessen,