Wir sind echt, gültig und entstanden, damit wir überleben. Wir bilden zusammen unsere Persönlichkeit (oder so etwas Ähnliches). Die Strukturen und Ebenen der Abspaltung sind unmöglich gleich zu erkennen, wie auch wie selbstständig Anteile sind und wie viele amnestisch, welche mit Co-Bewusstsein ausgestattet, welche nicht, weil wir voneinander dissoziiert und für andere unerreichbar sind und sich auch viele nach außen nicht direkt, wenn überhaupt, zeigen. Denn es gibt Anteile, die intern eine große Rolle spielen, viel aktiv sind und großen Einfluss auf das System haben, aber extern kaum oder gar nicht „erscheinen“. Die Entstehungsgründe sind bei bestimmten Anteilen ähnlich, auch gibt es z. B. kindliche Anteile oder Introjekte mit vergleichbaren Handlungsimpulsen (vergleichbar insofern, als dass in verschiedenen Menschen Anteile für bestimmte Aufgabenfelder oder mit ähnlichen traumatischen Erlebnissen auch Parallelen in ihrem Verhalten/Auftreten /Wünschen/Bedürfnissen zeigen). So geht es vielmehr darum, warum wer wie da ist, was wer wie warum für Aufgaben hat, welche Ressourcen nutzbar sind und was wer wie warum braucht bzw. warum wir wen wie abspalten mussten, als darum, das Auftreten zu begutachten oder sich nach dramatischen Switchs umzuschauen. Es ist ein Mythos, dass alle Menschen, die eine Multiple Persönlichkeit(störung) haben, offensichtlich und dramatisch ständig wechseln und sich in unterschiedlichsten Facetten zeigen und so auftreten oder sich Anteile nach einem Wechsel zu erkennen geben und sich je mit ihrem Namen vorstellen. Der fehlgeschlagene Titel einer „multiplen Persönlichkeit“ soll auch international künftig nicht mehr verwendet werden, sondern DIS. Denn weder, die offensichtlichen Symptome, an die Menschen bei einer multiplen Persönlichkeit denken, sind das worum es geht, noch bedeutet strukturell dissoziiert zu sein eine multiple Persönlichkeit zu haben. Wir haben nicht das, was integrations-typische Menschen sind, vervielfacht und in einen Körper gepackt. Wir sind viel eher dividiert, als multipliziert.
Welche Diagnose am Ende auch steht, das Empfinden und Erscheinen kann sehr ähnlich sein, auch wenn es einen anderen Titel trägt. Gleichzeitig können Menschen, die dieselbe Diagnose bekommen, sehr unterschiedlich empfinden. Es sind eben Worte auf Papier. Definitiv ist es aber keine Freak-Show. Die Wechsel und unsere Unterschiedlichkeit oder orientierungsloses Auftreten sind keine Unterhaltungsshow und es ist nicht (!) angebracht zu fragen, ob Wechsel gefilmt werden dürfen, weil es so „krank krass“ sei (wir mussten bitter enttäuschen). Ob als private oder professionell begleitende, unterstützende Person oder Betroffene – wer sich informieren will, soll das gerne tun, aber mit Vorsicht bzw. der Bereitschaft, bei Video-Medien zu hinterfragen. Filme und angeblich aufklärende You-Tube-Beiträge sind ein Grund dafür, dass es das Stigma gibt, bzw. dafür, dass es so weit verbreitet ist, weil es so „voll cool und aufregend“ sei, zu dissoziieren. Nein. Nein, ist es nicht. Ich kann und will mir nicht herausnehmen zu beurteilen, ob ein Video dies einfach als Entertainment übertrieben darstellt oder sich ein Mensch zeigen will, um aufzuklären. Das vermag und will ich nicht beurteilen. Zudem sind dies so überhaupt gar nicht meine Kanäle, um Einsichten oder Wissen zu erlangen, wodurch ich auch kaum Vergleichswerte habe und hier keine Bewertung setzen will. Sicher ist aber, dass etwas, das enormen, zerstörenden Leidensdruck verursacht und unseren Alltag bestimmt und alle Lebensbereiche einschränkt, kein Trend sein kann. Ganz besonders dann nicht, wenn wir die Entstehungsgründe betrachten. Allein die Vorstellung, dass Menschen das absichtlich übertrieben und oder verfälscht darstellen könnten, um mehr Klicks oder Likes zu bekommen, tut mir so weh, für alle, die darunter leiden müssen, weil damit großer Schaden anrichtet wird. Es mag sein, dass es gute, lehrreiche, ehrliche Videos dazu gibt, aber wer über Dissoziation aufklären will, und „Switching caught on camera“ postet, hat definitiv etwas falsch verstanden. Es ist kein Entertainment. Wer eine dissoziative Persönlichkeitsstruktur gebildet hat, hat etwas erlebt, was unmöglich zu ertragen war, was sie_er nicht aushalten konnte, weshalb ihre_seine Wahrnehmung von einem „Ich“ zerbrochen ist bzw. gar nicht entwickelt wurde, das „Selbst“ in Fragmente geteilt, damit sie_er es überstehen konnte. Es ist eine Überlebensstrategie, kein Spaß. War es nicht und ist es auch Jahre später im Alltag nicht geworden. Warum gibt es nicht „Depression caught on camera“? Ja klar, ist nicht so unterhaltsam. Wenn Menschen das sehen, halten sie es entweder für wahr oder sie sind dann überzeugt, dass es Dissoziation nicht wirklich gibt. Beides richtet Schaden an. Wenn sich eine Person bei dir sicher fühlt, mutiges Vertrauen zu dir hat und dir erzählt, eine dissoziative Störung zu haben, und du sagst oder denkst dann: „Oh, nein, hast du nicht. Das gibt es nicht in echt“, leugnest du nicht nur die Symptomatik. Dann leugnest du ihre gesamte Lebensrealität. Allen Schmerz, alles Leid, das sie zu ertragen hat lernen müssen, das ja lange abgespalten war oder (in Teilen) noch ist, alles wird dadurch kleingeredet. Es andererseits zwar als Realität anzunehmen, aber zu sagen, die Person sei völlig krank gestört, ist ebenso schmerzhaft. Wir werten uns selbst schon genug dafür ab. So oft verurteile ich mich für all die scheinbaren Unfähigkeiten, für die Lücken, das Nicht-Wissen, das Sich-aus-Fragen-mit-Halbaussagen-Winden. So oft bin ich davon überzeugt, die Kontrolllosigkeit, die Amnesien, die Schmerzen, die Unsicherheit und ständige Angst nicht mehr aushalten zu können. Dann zu hören oder die Gedanken zu spüren, krank und gestört zu sein, trifft zerstörend zielgenau in wunde Punkte. Es bestätigt die Selbstabwertung und hat auch den Beigeschmack von Schuldzuweisung, weil wir ja kaputt und gestört sind, weil das ja alles unsere Schuld ist, weil wir das Problem sind.
Persönlichkeitsanteile zu dissoziieren, ist grundlegend für Dissoziative Störungen, aber es geht nicht darum, wie deutlich unterscheidbar wir sind oder wie dramatisch die Switches aussehen. Es geht darum, das Prinzip der strukturellen Dissoziation zu verstehen, um sie als Überlebensstrategie anerkennen zu können. Für den Prozess der Integration ist nicht entscheidend, wie viele und wie drastisch unterschiedlich wir sind, sondern welche Bedürfnisse wir haben, warum wir entstanden, warum wir wie sind, warum wir was aus unserem Bewusstsein abspalten mussten bzw. warum wer dieses nie erreicht hat. Die Dissoziative Identitätsstörung (die der tertiären Dissoziation entspricht) ist bei nur sechs Prozent, derer, die sie diagnostiziert haben, andauernd offensichtlich ausgebildet. Also (können) 94 Prozent versteckt bleiben. Das ist keine Wertung. Nur entspricht das Leben in dissoziativen Selbst-Strukturen, das suggeriert wird, nur selten dem tatsächlichen, wenn solche scheinbare Multiplizität für Entertainment verwendet wird. Denn wie dramatisch die Switchs auch sein mögen, sind sie trotzdem nur die Spitze des Eisbergs, nur das, was Aufmerksamkeit erregt, wovon gedacht wird, es sei das Problem. Doch ist die Gewalt das Problem. Das Alleinsein im und nach dem wiederkehrenden Ausgeliefertsein ist das Problem, die Dissoziation ist die Überlebens-Lösung gewesen.
5 Dissoziation
Dissoziation ist in der Chemie der Zerfall einer chemischen Verbindung in frei bewegliche Ionen, elektrisch geladene Teilchen, da Elektronen abgegeben oder aufgenommen werden. Ein Stoff dissoziiert unter Energiezufuhr oder wegen der Wirkung von Wasser. So ähnlich ist das bei uns auch. Bei uns zerfällt aber die Integration des Selbst und unser Erleben bzw. dessen Verarbeitung im Gehirn, wobei tatsächlich auch Ionen beteiligt sind. Dies geschieht ebenfalls durch extreme Energiezufuhr, da bei Todesangst massive Kräfte entstehen. Und gleichermaßen wie verschiedene Stoffe leichter bzw. vollständiger dissoziieren, gibt es auch Menschen, die eine größere Fähigkeit/(epi)genetische Veranlagungen dazu haben. Und wenn wir diese Fähigkeit schon früh viel nutzen müssen, entwickelt sich unser Gehirn so, dass die Dissoziation eine unbewusst automatisch gewählte Art der Stressbewältigung wird, weil wir keine anderen Wege erlernt haben, mit bedrohlichen Situationen umzugehen. Leider ist das eine Systematik, die sehr schwer zu verändern ist, weil wir, solange wir immer mit Dissoziation reagieren, auch keine anderen Bewältigungsstrategien erlernen können.
Nun können wir die Welt abspalten, bestimmte Erfahrungen oder alle Erfahrungen in einem bestimmten Kontext abspalten oder einzelne Emotionen abspalten oder auch gespalten sein oder in so einen Spalt hineinrutschen – und all dies auf verschiedene Art und in unterschiedlicher Komplexität. So ist Dissoziation ein Überbegriff für verschiedene Phänomene und wird oft auch sehr weitläufig