Auf der Weiterfahrt stoßen wir auf Hyänen, die ein Schlammloch für die Schönheitspflege belagern und uns misstrauisch hechelnd fixieren. Wenn man weiß, dass selbst Löwen vor einem Rudel Hyänen Angst haben, dann bleibt man gerne auf Distanz. Doch nur wenige Hundert Meter weiter bleibt eine Hyäne einem Kudukalb nicht genug auf Distanz. Die Kudumutter steht blökend in der Gegend, das Kind folgt einfach nicht. Die einzelne Hyäne zieht langsam ihre Kreise um das Kalb, näher und näher kommt sie. Drei Jeeps haben sich versammelt, die Insassen beratschlagen aufgeregt, wie man denn das putzige Tierbaby vor der bösen hässlichen Hyäne retten könnte. Schon tauchen am Horizont weitere Hyänen auf. Ringsum ziehen völlig unbeeindruckt endlose Gnu- und Zebraherden vorbei. Thomson-Gazellen und Oryx-Antilopen würdigen die prekäre Lage nicht eines Blickes, und auch alle anderen Kudus außer der Mutter zeigen sich absolut desinteressiert. C’est la vie, n’est-ce pas?
Wir Menschen hingegen, die zu viele Disneyfilme mit sprechenden Rehen gesehen haben, beschließen Folgendes: Der kleine Jeep mit dem jungen Paar aus dem Schwäbischen (er ist Selbstfahrer) wird die Hyäne forttreiben, der große Jeep mit den Engländern wird die nahenden Hyänen in Schach halten, und wir haben die Aufgabe, das Baby zur Mutter zu treiben. Mama Kudu wird es uns danken. Alles leichter gesagt, als getan. Die Schwaben spielen mit der einzelnen Hyäne munteres Quersavanneeinrennen und wildes Hakenschlagen, bis die Stoßdämpfer qualmen. Die Engländer haben nicht den Hauch einer Chance, das nahende Rudel aufzuhalten, das sich strategisch günstig aufteilt und mit den Tommys Katz und Maus spielt.
Leider entpuppt sich das Kudukalb als absolut störrisch und weigert sich, zu seiner immer noch rufenden Mutter zu gehen. Da findet es unseren Wagen schon viel interessanter. Es nähert sich schnuppernd und rollt drollig mit den großen, feuchten Bambiaugen. Giovanna schmilzt seufzend dahin. Nach langen Minuten wird es unserem Fahrer Joe zu dumm. Er steigt aus, packt das kleine Tier und hebt es in den Wagen. Giovanna, die vorne neben Joe sitzt und der Joe das Kalb auf den Schoß legen will, weigert sich entschieden. Seufzend schmelzen ja, aber bitte nicht anfassen. Also muss der prinzessinnenhafte Stefan den Babysitter spielen. Mit glasigen Augen balanciert er das Kudubaby auf seinen Oberschenkeln und streichelt es verzückt. Meinen Einwand, dass die Mutter das Kind nie wieder annehmen wird, weil es nun nach Menschen riecht, beachtet niemand. Wozu habe ich schließlich alle Grzimek- und Sielmann-Filme gesehen und wollte einst »Naturforscher« werden?
»Werft es doch gleich der Hyäne vor«, sage ich resigniert und ernte dafür nur böse Blicke. Die andern sind auf einer Rettungsmission, da stören »Naturforscher«-Weisheiten.
Wir fahren auf Mama Kudu zu, um ihr das Kind zu übergeben. Doch anders als bei Disney flüchtet das Tier vor uns. Wir folgen der Guten minutenlang. Vergebens. »Hallo, wir wollen dir doch nur das Baby zurückgeben!«, ruft Stefan überflüssigerweise mit schmeichelnder Kuschelstimme und knuddelt das Kleine mit dem seidenweichen Fell in seinen Armen. Schließlich gibt es ein Einsehen. Wir haben es verbockt. Joe hält an, nimmt Stefan das Kalb aus dem Arm und stellt es in die Landschaft. Wir fahren ein paar Meter zurück. Sehen die immer noch rufende Mutter und das Kalb, das nicht reagiert. Wir fahren weiter weg. Sehen die Mutter rufen und die einzelne Hyäne wieder ihre Kreise ziehen, denn die Schwaben und die Engländer hetzen mittlerweile das Rudel sinnlos durch die Weite Afrikas. Wir fahren weg. Ein letzter Blick zurück: Die Mama sucht Anschluss zu einer kleinen Gruppe Kudus, das Kalb schaut uns mit riesengroßen Bambiaugen nach und achtet nicht auf die Hyäne, die das Kreisen aufgegeben hat und nun die Direttissima wählt. Supper time.
Ein gewaltiger Regenschauer geht nieder. Wir kehren ins Camp zurück. Paviane tummeln sich am Eingang neben einem kleinen Lagerfeuer und spielen mit Müll. Leider haben wir nicht die Big Five gesehen, denn Kaffernbüffel und Rhinozerosse blieben in der Weite Afrikas verborgen. Nach dem Mittagessen bricht die Sonne hervor, wir legen uns neben die Zelte und brutzeln ein wenig. Die Spuren an den Bäumen zeigen, dass die Elefantenherde, die uns nachts besuchte, direkt neben unserem Zelt einen Snack zu sich nahm.
Am späteren Nachmittag ist unsere Abreise. Joe kutschiert uns zu der Piste mitten im Nirgendwo, wo nur der träge flatternde gelbe Windsack von Zivilisation kündet. Erneut brechen die Wolken, es schüttet wie aus Eimern, Blitze und Donner toben – und außerdem ziehen die endlosen Gnu- und Zebraherden just über unser Rollfeld. Wir sollen uns festhalten, sagt Joe, dann brettert er los und scheucht die Tiere von der Landebahn. Eine Sisyphusarbeit, denn für ein Gnu, das weicht, kommen zwei nach. Letztlich ist doch so viel Platz, dass das Miniflugzeug landen kann. Eine farbige Pilotin, die aussieht wie ein amerikanischer Popstar, steigt aus und legt beim Einladen des Gepäcks selbst Hand an (Anm.: Ja, ich weiß, farbig darf man heute nicht mehr sagen oder am Ende gar schwarz, der politisch korrekte Begriff nach Vorgaben der Sprachpolizei wäre PoC; ausgesprochen wird das »Pi oh Si«. PoC steht für Person of Color, das heißt übersetzt Person von Farbe, was schlechtes Deutsch ist, darum ist die bessere Übersetzung farbige Person; mich stört ja dieses »Person« sehr, das klingt mir sehr nach Objekt, nach Herabwürdigung, nach Ausgrenzung. Die beste Übersetzung von PoC ist also Farbige(r). Und schon sind wir plötzlich wieder politisch unkorrekt! Nur durch korrekte Übersetzung. Ich checks nicht.). Ihre schmucke Uniformbluse ist in Sekundenschnelle durchnässt. Damit das Flugzeug starten kann, muss Joe die Bahn wieder gnufrei machen. Mitten in Blitz, Donner und Wolkenbruch hebt schließlich die nasse Pilotin mit uns ab. Als Bordverpflegung wird eine Schale mit Bonbons herumgereicht. Nach zwei weiteren Zwischenlandungen mitten im Nirgendwo, wo jeweils ein paar Touristen zusteigen, landen wir gegen Abend in Nairobi.
Im Hotel können wir endlich nachholen, was uns auf Safari verwehrt blieb: Wir essen alles, was wir gesehen haben. Das Barbecue bietet Giraffe, Zebra, Kudu, Springbock, Gazelle, Strauß und Elenantilope. Auf unseren Wunsch legt man noch eine Portion Krokodil drauf, das allerdings nur wie eine knorpelige Mischung aus Huhn mit Fisch schmeckt. Neben den Gourmetklassikern Strauß und Springbock überrascht vor allem das Zebra durch seinen delikaten Geschmack. Aber schließlich ist das eine Pferdeart, und da ich zu dieser Zeit mit einem Holländer zusammen bin, kenne ich natürlich leckere Pferdewurst oder zartes Pferderoastbeef, was in holländischen Metzgereien und Supermärkten zum normalen Programm gehörten. Seltsamerweise haben offenbar nur die Deutschen ein derart gestörtes Verhältnis zum Pferd als Nahrungsmittel.
Am letzten Tag unseres Afrika-Sprints steht ein Nairobibummel auf dem Programm. Der Hotel-Shuttle bringt uns in die Stadt. Natürlich müssen wir die alte Markthalle (Tubman Road/Muindi Mbingu Street) sehen, doch wie enttäuschend für uns: Drinnen hat sich ein Touristen-Abzock-Zentrum (TAZ) etabliert. Der übliche Ramsch, der auf jedem deutschen Festival angeboten wird. Ethnokitsch, bei dem natürlich alle Stewardessen wie auf Befehl in Kaufrausch verfallen. Carlo und ich seilen uns ab. Neben der Halle ist der Fleischmarkt. Beißender Verwesungsgeruch liegt in der Luft. Die Metzger stehen mit blutverschmierten Kitteln zwischen ihrer Ware. Freundlich winkt uns ein junger Mann heran. Wir verzichten doch lieber. Vielleicht hat der junge Mann auch nicht uns gewunken, sondern versucht, die dichten schwarzen Fliegenschwärme zu verscheuchen.
Die Innenstadt von Nairobi ist schnell abgegrast. Natürlich gibt es Bettler und abgerissene Straßenkinder, die teilweise auf den Bürgersteigen schlafen. Doch auffallend viele Menschen sind perfekt gekleidet. Die Nairobianer tragen elegante Anzüge mit Krawatte, häufig sogar mit Weste. Die Damen sind meist im schicken Kostüm unterwegs. Nur Weiße fallen unangenehm durch Kurzärmligkeit und Jeans auf. Wir fühlen uns underdressed und schämen uns fast, dass wir T-Shirts tragen. Wir stolpern über einen Markt, der von Ferne interessant und original einheimisch wirkt, sich beim Darüberlaufen aber als Freiluft-TAZ entpuppt. Wir müssen regelrecht fliehen, denn einer der jungen Männer, die als Anreißer jeden Weißen sofort mit Beschlag belegen, klebt wie eine Zecke an uns. Unsere Zecke spricht sogar Deutsch. Erst als wir den Markt einige Hundert Meter weit hinter uns gelassen haben, lässt er von uns ab. Ich kaufe in einem regulären Geschäft, das einem Inder gehört, zwei alte Masken. Die Preise sind hoch, doch im offiziellen African Art Shop ein paar Straßen weiter sind sie noch höher. Wir wollen noch einen Kaffee im legendären Dornenbaum Café trinken, das bei Weltenbummlern und Afrikadurchquerern eine Institution ist. Doch der Dornenbaum, der dem Laden den Namen verlieh, ist nicht mehr. Nur ein Stumpf blieb. Mitten an einer verkehrsumtosten Straße ohne Baum wollen