»Gruppeninspektor Edwin Mirscher vom Landeskriminalamt Oberösterreich. Wir müssen Sie sprechen.«
»Ich bin noch im Morgenmantel«, drang es blechern aus der Sprechanlage.
»Es ist dringend!«, ergänzte Mirscher.
Es knackte wieder, dann herrschte Stille.
»Frau Balduin?« Mirscher starrte die Sprechanlage entgeistert an.
»Was hast du erwartet? Dass sie am Sonntag Fremde mit offenen Armen empfängt? Wir könnten ja auch Zeugen Jehovas sein.« Kolanski trat näher und drückte selbst auf die Klingel, deutlich länger als Mirscher. Und gleich ein zweites Mal.
»Ist ja schon gut!«, drang es aus dem Lautsprecher.
»Siehst du, so macht man das.« Kolanski grinste Mirscher an.
»Ich bin mir sicher, dass sie mir auch aufgemacht hätte. Ich hätte halt nur gewartet, bis sie sich etwas Ordentliches angezogen gehabt hätte und …« Mirscher verstummte. Jemand hantierte innen mit einem Schlüssel, und angesichts der Nachricht, die sie der Familie mitteilen mussten, war eine angemessene Haltung angebracht. Mirscher streckte den Rücken durch, Kolanski nahm die Sonnenbrille ab und schob sie in die Brusttasche seines Hemdes. Schließlich ging die Tür auf und eine Frau um die 50 stand vor ihnen. Sie trug einen blauen Morgenmantel, war jedoch schon geschminkt. Die braunen glatten Haare hatte sie mit einer Spange hochgesteckt.
»Gruppeninspektor Edwin Mirscher, das ist mein Kollege Gruppeninspektor Hermann Kolanski. Wir müssen mit Ihnen und Ihrem Mann sprechen, Frau Balduin.« Mirscher hielt ihr seinen Dienstausweis hin, und sie warf einen flüchtigen Blick darauf.
»Um was geht’s denn?« Die Frau klammerte mit einer Hand den Morgenmantel vor ihrer Brust zusammen.
»Das sollten wir lieber drinnen bereden«, sagte Kolanski ausweichend. »Dürfen wir reinkommen?«
Die Frau trat nach kurzem Zögern beiseite und ließ die Kriminalbeamten ein. Dann führte sie sie die Treppe nach oben in das Esszimmer, wo ihr Ehemann gerade Kaffee trank und die Sonntagszeitung studierte. Als sie eintraten, sah er hoch und ließ die Zeitung in den Schoß sinken.
»Die Herren sind von der Polizei«, stellte Frau Balduin die Besucher vor.
»Polizei? Sie müss’n unseren Aufzug verzeih’n. Wir sind spät zu Bett g’gangen, weil unsere Tochter gestern g’heiratet hat. Und da heute Sonntag ist, dachten wir, wir könnten ausschlafen. Ich bin Gustav Balduin, meine Frau Anna kennen Sie ja bereits.« Der Hausherr faltete die Zeitung und legte sie beiseite. »Wollen S’ einen Kaffee?«
»Nein, danke«, lehnte Kolanski ab.
»Bitte setzen Sie sich«, bot ihnen Anna Balduin einen Stuhl an. »Was ist denn passiert, dass Sie uns unbedingt an einem Sonntag sprechen müssen?«
Auf dem Tisch standen neben zwei Kaffeetassen mehrere Stücke des Hochzeitskuchens, wie Kolanski und Mirscher vermuteten. Diese waren offensichtlich vom Fest übrig geblieben, und die Gäste hatten sie sich mit nach Hause nehmen dürfen, wie es bei Hochzeiten üblich war. Das Vorhandensein des Kuchens machte das Überbringen der Todesnachricht noch schwerer. Mirscher zögerte, deshalb übernahm Kolanski das Reden.
»Wir haben Ihnen leider eine traurige Mitteilung zu machen. Ihre Tochter Marion wurde heute Morgen tot aufgefunden. Unser aufrichtiges Beileid.«
Für einen Augenblick herrschte Schweigen. Offenbar waren die Balduins heute noch nicht im Internet gewesen, sonst hätten sie das Foto ihrer toten Tochter – wie sie mit ausgestreckten Armen wie ein Kreuz in den Bäumen hing – schon gesehen. Oder sie nutzten prinzipiell keine sozialen Medien. Ihre Überraschung schien echt zu sein.
»Sind S’ sicher, dass es Marion ist?«, fragte der Vater. Er war kreidebleich und starrte die Beamten ungläubig an.
Die Mutter stand abrupt vom Tisch auf und griff nach ihrem Handy, das auf einer Kommode lag. Sie wischte und tippte und hielt es sich ans Ohr. Bestimmt rief sie Marion an. Die würde jedoch nicht rangehen, wussten die Kriminalbeamten.
»Sie hebt net ab«, sagte die Mutter, während die Gewissheit, dass die Männer die Wahrheit sprachen, in ihr Gehirn vordrang. Sie ließ den Arm mit dem Smartphone sinken, jedwede Energie wich aus ihrem Körper. Sie torkelte und kippte zur Seite.
Mirscher sprang ihr sofort zur Hilfe und fing sie gerade noch auf, bevor ihr Kopf gegen den Schrank prallte. Kolanski half ihm, die Frau auf den Boden zu legen und die Füße hochzulagern. Sanft tätschelte er ihr Gesicht. »Frau Balduin? Hören Sie mich?«
Gustav Balduin saß noch immer auf dem Stuhl und rührte sich nicht. Er bekam vom Ohnmachtsanfall seiner Frau nichts mit. Er starrte auf einen Fleck und murmelte ein paar Worte vor sich hin, die sich wie »Was habe ich nur getan?« anhörten, aber auch etwas ganz anderes hätten heißen können.
»Wir brauchen einen Arzt«, erkannte Mirscher und wählte den Notruf.
Inzwischen erlangte Anna Balduin ihr Bewusstsein wieder. Als sie realisierte, dass alles kein Traum gewesen war und in ihrem Esszimmer tatsächlich zwei Kriminalbeamte waren – der eine über sie gebeugt und der andere telefonierend –, schrie sie sich die Seele aus dem Leib. Es waren die Schreie einer verzweifelten Frau, die den Tod ihres Kindes nicht wahrhaben wollte. Ihn nicht akzeptieren konnte. Lieber selber sterben wollte, als weiterzuleben mit dem Wissen, die eigene Tochter nie mehr in den Arm nehmen zu können. Kolanski wollte sie berühren, doch sie schlug nach ihm, als wäre er schuld am Tod ihres Kindes. Er ließ nicht locker, zog sie an sich, bis sie ihn gewähren ließ. Schreiend und weinend. Wütend und traurig. Eine Weile saßen sie so da, bis endlich in der Ferne die Sirene des Rettungswagens ertönte.
*
»Scheiße!«, raunte Mirscher Kolanski zu, nachdem der Notarzt und das Kriseninterventionsteam gleichzeitig eingetroffen waren und die Versorgung der Balduins übernommen hatten. »Eltern sagen zu müssen, dass ihr Kind tot ist, ist echte Scheiße, das mach ich nie wieder!«
»Das wirst du auch nicht mehr müssen«, erwiderte Kolanski. »Schließlich wechselst du bald ins Landesamt für Verfassungsschutz und darfst Terroristen bekämpfen.«
»Wie kannst du dabei nur so ruhig bleiben?«, fragte Mirscher irritiert.
»Was bringt es mir, wenn ich nicht ruhig bin?«, stellte Kolanski eine Gegenfrage.
»Klugscheißer!«, fauchte Mirscher ihn an.
»Auf alle Fälle können wir die beiden als Täter ausschließen. Niemand reagiert so, wenn er vom Tod des geliebten Menschen gewusst hat«, resümierte Kolanski.
»Außer er ist ein guter Schauspieler«, warf Mirscher ein.
»Dann muss er aber ein sehr guter Schauspieler sein«, antwortete Kolanski und deutete auf den Vater, der wie betäubt auf dem Stuhl saß und regungslos geschehen ließ, was die Sanitäter mit ihm anstellten. Als die Spritze mit dem Beruhigungsmittel in seine Vene eindrang, verzog er nicht einmal das Gesicht.
Während die Mutter im Wohnzimmer auf der Couch lag und dort medizinisch versorgt wurde, setzte sich Kolanski Gustav Balduin gegenüber und fragte: »Herr Balduin, können Sie uns ein paar Fragen beantworten?«
Der Vater richtete den Blick auf den Gruppeninspektor, doch es war, als sähe er durch ihn hindurch. Als nähme er ihn nur am Rande wahr. Dennoch nickte er.
»Was ist gestern auf der Hochzeit passiert, das nicht hätte passieren sollen?« Kolanski wählte seine Worte mit Bedacht.
»Nichts. Alles war so, wie es hat sein soll’n«, antwortete Balduin.
Die Kriminalbeamten wussten nicht, ob sich der Vater das jetzt einredete, um mit der Situation klarzukommen, oder ob es tatsächlich so gewesen war. Die Menschen neigten dazu, die Dinge im Nachhinein schönzufärben, um sich nicht damit auseinandersetzen zu müssen.
»Gab es Streit?«
Gustav Balduin überlegte. »Nein.«
»Wann