Rogge trommelte einen Marsch auf den Schreibtisch. Der liebe Grem forderte mit seiner Art viele Menschen zu unerwarteten Reaktionen heraus!
In der letzten Nebenakte war der Papierkrieg um die Sendung XY ... ungelöst vom März abgeheftet. In seiner Begründung hatte Grem offen zugegeben, dass er eine positive Personenidentifizierung nicht mehr erhoffe; sie war jetzt sechs Monate verschwunden, hätte also längst vermisst werden müssen, wo immer und mit wem immer sie früher gelebt hatte. Aber da war die Unterwäsche, ein sehr teures, nicht weit verbreitetes Produkt, und da gab es die drei Schmuckstücke, die sie getragen hatte, als sie mit Arno Jödel bei der Polizei erschien: eine flache goldene Armbanduhr, eine doppelreihige Kette echter Perlen und einer Schließe mit zwei Diamanten und ein goldenes Armband, besetzt mit Smaragden. Zumindest die Schließe der Perlenkette und das Armband waren Einzelanfertigungen. Wenn sie die rechtmäßige Eigentümerin dieser Stücke war, konnte sie vor dem grauen Loch keine arme Frau gewesen sein.
Das Ergebnis schenkte Rogge sich: nichts. Abgesehen davon, dass Grem seitdem in der Kantine häufiger angemosert wurde, wann er denn regelmäßig als Moderator im Fernsehen zu bewundern sei.
Und nun wollte Simon den Fall vom Tisch haben! Mit diesen Anhaltspunkten, Nachdem Rogge beträchtliche Löcher in die Luft gestarrt hatte, raffte er sich auf und rief ihren Polizeipsychiater an, im Hausjargon Bullentröster genannt.
Das Glück lächelte ihm, Sedelmann hob sofort ab: »Herr Rogge! Was kann ich für Sie tun?«
»Sie kennen den Fall Inge Weber?«
»Grems Waterloo? Ja, aus den Akten.«
»Dann müssten Sie mir eine Frage beantworten können. Die Frau saß in BH und Slip auf einer Bank. Ohne Schuhe. Es hatte zwar noch etwa zwanzig Grad Celsius, aber nach einiger Zeit muss sie doch zu frieren begonnen haben.«
»Richtig.«
»Hätte sie dann nicht aufwachen müssen?«
»Vorsicht, Herr Rogge. Ich ahne, worauf Sie hinauswollen. Es spricht viel dafür, dass die Kälte das Aufwachen ausgelöst hat, also die Reaktion, die sie in dem Auto dann erlebte. Aber an dem grauen Loch hätte das nichts geändert - aller Wahrscheinlichkeit nach nicht.«
Bloß nicht festlegen, dachte Rogge resigniert, »Gut, Nach der Aussage dieses Jödels, die wir alle für korrekt halten, ist sie aber erst in seinem Auto aufgewacht. Kann ich daraus den Schluss ziehen, dass sie noch nicht sehr lange auf dieser Parkplatzbank gesessen hatte, als Jödel sie auflas?«
»Ich weiß, dass meine Vorbehalte Sie ärgern, aber trotzdem: möglich, ja.«
»Wie lange hat sie da gehockt? Fünf Minuten? Zehn Minuten? Eine Stunde?«
»Tut mir Leid, auf das Eis lasse ich mich nicht locken.«
»Und warum nicht?«
»Herr Rogge, Sie gehen doch auch davon aus, dass sie irgendetwas erlebt hat, etwas Schreckliches, Ungewöhnliches, Fürchterliches, jedenfalls so schlimm für sie, dass ihr Verstand darauf mit Verweigerung reagiert hat. Mal laienhaft: Im Unterbewusstsein kann sie die Kälte gespürt haben, aber dieser Reiz muss nicht so groß gewesen sein, dass er die Blockade, die Hürde vor dem Bewusstsein, überwunden hat.«
»Schade.«
»Ja, tut mir Leid. Die Neuigkeit ist natürlich im Haus längst rum. Viel Glück, Herr Rogge.«
»Danke, das kann ich gebrauchen.«
Nach der Fernsehsendung hatte sich tatsächlich ein Autofahrer gemeldet, der am 15. September auf dem Parkplatz Feltenwiese gehalten hatte. Auf die Minute konnte oder wollte er sich nicht festlegen, gegen 23.20 Uhr war er eingebogen und ausgestiegen: Kniebeugen, Arme schwingen, etwas Hüpfen, ein paar Schritte hin- und herlaufen, eine Zigarette rauchen - Abfahrt gegen 23.35 Uhr. Auch zu der Zeit hatte kein Auto auf dem Parkplatz gestanden, dessen war er sich »ziemlich sicher«, also leider nicht hundertprozentig. Nein, er hatte keinen Menschen gesehen und eine Frau in Unterwäsche - nein, die wäre ihm doch bestimmt aufgefallen. Na schön. Laut Auskunft der Autobahnpolizei wurde die Feltenwiese selten angesteuert. Es gab keine Toiletten dort, kein Telefon, übrigens auch keine Beleuchtung, nur drei roh gezimmerte Holztische mit Bänken aus halben Baumstämmen; ein Fahrer würde sich gerade nachts überlegen, ob er nicht noch die vierzehn Kilometer bis zur Autobahnraststätte dranhängen sollte. Auch Jödel war nur abgebogen, weil er unbedingt musste.
Also mal angenommen: Der Zeuge hatte sich nicht geirrt, war um 23.35 Uhr wieder abgefahren. Zweite Annahme: In dem großen, dunklen Wagen, den Jödel um 23.55 Uhr beobachtet hatte, als der auf die rechte Spur zog, hatte vorher Inge Weber gesessen. Also konnte, was immer sich am 15. September abgespielt hatte, höchstens zwanzig Minuten gedauert haben.
Bevor er sich erneut über Simon aufregte, klingelte das Telefon: »Rogge, weißt du, wie spät es ist?«
»Sei gegrüßt, schöne Dörte«, sagte er ergeben.
»Von wegen gegrüßt! Wir waren zum Essen verabredet, vor einer Viertelstunde wolltest du mich abholen und jetzt nimmst du die Beine in die Hand, ich warte bei Renzler auf dich.«
Sie hatte bei Renzler einen der seltenen Zweiertische belegt und blitzte ihn finster an. Dörte von Sandau, ein Jahrzehnt jünger als Rogge, von Beruf Staatsanwältin, geschieden, seit einiger Zeit Rogges Nachbarin eine Etage tiefer, wartete nicht gerne, wie sie ihm mehr als einmal erklärt hatte. Obwohl er sonst nicht gerade begriffsstutzig war, hatte er lange gebraucht, bis er diese Sätze auf sich bezog.
»Lass dir was Überzeugendes einfallen!«, drohte sie und er schmunzelte.
Von dem Fall Inge Weber hatte sie gehört. »Und was will Simon von dir?«
»Dass ich herausfinde, wer sie ist.«
»Wieso du? Was hat die Mörderei mit Gedächtnisverlust zu tun?«
»Das musst du Simon fragen.« Rogge seufzte, weil sie die Stirn runzelte. »Ich glaube, er will mir einen Gefallen tun und mich aus dem Routinebetrieb rausziehen.«
»Verheizen.«
»Nein, das denke ich nicht, er weiß zu genau, wie verfahren die ganze Kiste ist.«
Dörtes skeptischem Blick hielt er stand. Sein Vertrauen in Simons Anständigkeit teilte sie nicht uneingeschränkt, sie war mit dem alten Fuchs mehr als einmal dienstlich zusammengerasselt, aber wenn Jens meinte, Karl Simon sei ein echter Freund, so wollte sie nicht widersprechen. Im vergangenen Dezember war sie seine Nachbarin geworden, ganz und gar nicht freiwillig, wie sie immer wieder betonte. Kurz zuvor hatten die Banken und die Gläubiger sich auf die Summe geeinigt, die sie zurückzahlen musste, nachdem der Ehemann haarscharf an einem Verfahren wegen Konkursbetrugs vorbeigeschlittert war. Da sie in Zuverlustgemeinschaft gelebt hatten, wie sie wütete, blieb ihr nichts anderes übrig, als die große Wohnung in einer alten Villa am Stadtpark aufzugeben und sich etwas Billigeres zu suchen. Rogge hatte von ihren Nöten gehört, und als er erfuhr, dass eine der Zweizimmerwohnungen in seinem Hochhaus frei werden sollte, informierte er sie. Notgedrungen griff sie zu, der Göttergatte Felix hatte sich seinen finanziellen Verpflichtungen durch Abtauchen entzogen, was die Gläubiger empörte, sie hingegen erleichterte, weil es kein Konto mehr gab, auf das sie den gerichtlich verfügten Unterhaltsausgleich überweisen musste. »Für den Scheißkerl auch noch löhnen? - Mit unserer Gesetzgebung stimmt was nicht.« Für einen lockeren Spruch war Dörte jederzeit gut, was den Umgang mit ihr angenehm erfreulich machte, ihre Karriere aber gewaltig hemmte. Und dann war sie die einzige Frau gewesen, die regelmäßig zu ihm ins Krankenhaus kam, meist in Eile, mit einer Unsentimentalität, die sogar die Schwestern erschreckte, immer voller Neuigkeiten und vor Optimismus platzend. »Ich mag Männer, die schwächer sind als ich«, erklärte sie fröhlich, aber als Rogge seinen linken Arm wieder gebrauchen konnte, das Argument also nicht mehr zutraf, meinte sie spöttisch, nun habe sie sich an ihn gewöhnt und er als Kriminalbeamter