Rogge blätterte, bis er das Protokoll fand: Jödel erinnerte sich, dass zu dieser Zeit ungewöhnlich wenig Verkehr herrschte. Drei, wenn nicht vier Minuten hatte er weder Rücklichter vor sich noch Scheinwerfer im Innenspiegel gesehen, bevor er auf den Parkplatz einbog. Allerdings glaubte er auch wahrgenommen zu haben, dass gut zweihundert Meter vor ihm ein wahrscheinlich großer, dunkler Wagen auf der Einfädelspur beschleunigte, während er auf der Abbiegespur bremste. Zum Autotyp konnte er keine Angaben machen, natürlich auch nicht über das Kennzeichen.
Jödel hatte sich auf die erste Parkfläche gestellt und war dann in den Wald gestürmt, der bis an den Platz reichte. Nach seiner Aussage war der dunkle Rastplatz zu diesem Zeitpunkt völlig verlassen gewesen. Nachdem er sein Geschäft erledigt hatte, ging er langsam zu seinem Auto zurück. Erst als er auf die Ausfahrt zurollte, bemerkte er die Frau. Sie saß regungslos auf einer Bank und im Scheinwerferlicht erkannte er, dass sie nur einen BH und ein Höschen trug; später fiel ihm auch auf, dass sie barfuß war. Die fehlende Kleidung und ihre Regungslosigkeit alarmierten ihn; er war schon an ihr vorbei, als er bremste und nach kurzem Zögern zurücksetzte.
»Warum, Herr Jodel?«
»Ich weiß nicht. Sie sah so hilflos aus. Ich dachte, es wäre ihr etwas passiert. Oder jemand hätte sie belästigt.«
Das Wort belästigt korrigierte er später freiwillig in vergewaltigt. Und danach habe der Täter sie hier ausgesetzt oder aus dem Auto geworfen. Vorsichtshalber rangierte er so weit zurück, dass er sie im Scheinwerferlicht wieder deutlich sehen konnte. Als er ausstieg und sich ihr näherte, rührte sie sich nicht, sagte auch kein Wort, so als habe sie ihn gar nicht wahrgenommen. Auch als er sie ansprach, reagierte sie nicht, sondern starrte weiter geradeaus vor sich hin.
»Als ob sie stumm und blind und gelähmt wäre.«
Er versuchte es noch einmal, wieder keine Reaktion.
»Wie im - Schock.« Medizinisch war dieses Wort unkorrekt, aber der verdutzte Jödel konnte ihr Verhalten nicht anders beschreiben. »Starr und völlig weggetreten.«
Ihm war klar gewesen, dass er jetzt nicht einfach wegfahren und die Frau ihrem Schicksal überlassen konnte. Aber seine Aufforderung, in sein Auto zu steigen, schien sie gar nicht zu erreichen, also hatte er es endlich riskiert und sie am Oberarm angefasst, um sie von der Bank hochzuziehen. Zu seiner großen Verblüffung folgte sie sofort, ohne Widerstand, immer noch wortlos, mit der unverändert maskenhaften Miene. Jetzt war ihm aufgefallen, dass sie keine Schuhe trug.
»Sie gehorchte wie eine - eine - Marionette. Ohne eigenen Willen.«
Jödel räumte ein, dass er ins Schwitzen geriet. Helfen wollte er, aber so etwas hatte er noch nie erlebt und die Furcht, in eine Falle gelockt zu werden, wuchs von Sekunde zu Sekunde. Außerdem hatte er, wie er offen zugab, auch Angst vor der Reaktion der Frau: halbnackt, um Mitternacht auf einem einsamen Parkplatz - wenn sie nun später behauptete, er hätte sie belästigt - von solchen Fällen hatte er schon gelesen, und gerade weil er als Vertreter viel unterwegs war, nahm er grundsätzlich keine Anhalterinnen mit. Das hatte er erstens seiner Frau versprochen und zweitens kannte er einen Kollegen, der bei strömendem Regen eine junge Frau aufgelesen hatte, die am Ziel seelenruhig ausstieg und sofort zum nächsten Revier marschierte, wo sie ihn wegen sexueller Belästigung anzeigte. Mit perfekter Personenbeschreibung und vollständigem Kennzeichen. Das alles war ihm durch den Kopf geschossen, während er sie zu seinem Wagen führte.
»Ich musste sie regelrecht auf den Beifahrersitz drücken.«
Was sie ohne Widerstand mit sich geschehen ließ; als er einstieg, saß sie kerzengerade, die Hände flach auf den Oberschenkeln, den Kopf nach vorn gerichtet.
»Ich hab ihr gesagt, sie müsse sich anschnallen, aber das hat sie nicht gehört. Oder nicht verstanden.«
Was sollte er tun? Schließlich hatte Jodel an ihr vorbei nach dem Gurt gegriffen, selbst dabei bewegte sie sich keinen Millimeter, auch nicht, als er sie aus Versehen streifte. »Mir ist richtig unwohl geworden«, gestand er und seine Zähne klapperten noch in der Erinnerung. »Das war doch nicht normal.«
Rogge legte einen Merkstreifen auf die Protokollseite und blätterte schnell weiter: keine Einvernahme durch einen Sachverständigen. Wahrscheinlich hatte Jödel mehr als einmal bedauert, sich um die Frau gekümmert zu haben, die Protokolle mussten ihn mindestens zwei Tage gekostet haben. Von den sonstigen Scherereien ganz zu schweigen.
Bei der zweiten Einvernahme hatte schon Grem die Fragen gestellt und Jödel gelöchert: Wie viel Zeit war zwischen seinem Einbiegen auf den Parkplatz und der Abfahrt verstrichen? Hatten in dieser Frist andere Autos auf dem Platz angehalten? Hatte er einen Menschen bemerkt? Ein Auto, dessen Fahrer sich merkwürdig verhielt?
Rogge schmunzelte mitfühlend; den armen Jödel konnte er sich gut vorstellen, vor ihm ein drohend-unfreundlicher Grem, daneben neugierige Beamte. Doch Jödel war fest geblieben: ziemlich genau um 23.55 Uhr angehalten. Fünf, höchstens sechs Minuten später wieder abgefahren. Während dieser Zeit hatte kein anderer Wagen den Parkplatz angesteuert; er hatte niemanden bemerkt, ihm war nichts aufgefallen. Ja, in der Zeit waren einige Wagen auf der Autobahn vorbeigefahren. Nein, auf der Fahrt bis in die Stadt war ihm niemand gefolgt, er glaubte sich daran zu erinnern, dass er mehrfach überholt worden war, aber konnte sich nicht daran erinnern, dass ein bestimmtes Auto ihm über eine längere Strecke gefolgt sei.
Acht oder neun Minuten nach der Abfahrt hatte sie plötzlich zu sprechen begonnen: »Wer sind Sie?«
Vor Schreck hätte er beinahe das Lenkrad verrissen. Sie hatte den Kopf zu ihm gedreht und betrachtete ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal, nicht ängstlich oder entsetzt, sondern völlig verwirrt, erstaunt, als sei sie aus einem tiefen Schlaf aufgewacht und wisse nun überhaupt nicht, wo sie sich befinde.
»Ich heiße Arno Jödel«, antwortete er hastig.
Darauf blinzelte sie; seine Worte hatte sie gehört, auch verstanden, dessen war sich Jödel sicher, aber damit war für sie die Situation nicht erklärt.
»Und wer sind Sie?«, hatte er gefragt.
»Wer ich ...« Danach war sie verstummt und hatte wieder unbeweglich nach vorn geschaut. Die maskenhafte Starre war gewichen, jetzt sah sie völlig hilflos aus. Nach dreißig Sekunden sagte sie mit dünner Stimme: »Das weiß ich nicht.«
Jödel zweifelte, wie er zu Protokoll gab, keinen Moment daran, dass sie die Wahrheit sagte. Sie wusste nicht, wer sie war, er verstand zwar nicht, wie einem Menschen das passieren konnte, aber er war überzeugt, dass sie nicht log. Damit stand für ihn fest, was er tun musste.
»Ich bringe Sie zur Polizei«, erklärte er fest und nach einer Weile echote sie unsicher: »Zur Polizei, ja.«
Auch bei mehrmaligem Nachfassen beharrte Jödel darauf, dass sie danach keine Fragen mehr gestellt habe. Zwar sei sie jetzt voll bei Bewusstsein gewesen - oder aufgewacht, wie er es umschrieb —, aber sie wollte weder wissen, wo er sie aufgelesen hatte, noch, was mit ihrer Kleidung geschehen war.
Um 0.16 Uhr am 16. September erschien Jödel mit ihr im Autobahnpolizeiposten Terborn Nord.
Rogge lehnte sich zurück und gähnte. Ob Simon wirklich hoffte, mit diesen kümmerlichen Anhaltspunkten ließe sich der Fall jetzt noch, ziemlich genau zwölf Monate später, aufklären? Oder hatte Simon ihm nur eine Möglichkeit bieten wollen, sich für einige Zeit aus dem Routinebetrieb des Ersten Kommissariats zurückzuziehen, allein und unbeobachtet zu recherchieren, ohne ständig die heimlichen Blicke der Kollegen zu spüren, die sich besorgt oder auch hämisch fragten, ob Rogge es schaffte, sich wieder in die Mannschaft einzugliedern, ob er noch einmal über den Berg käme.
Mit der Schusswunde hatte