»Die Unterwäsche könnte auch aus Frankreich stammen.«
»Richtig, aber Frankreich ist groß und Simon hat nicht erlaubt, dass einer von uns eine Dienstreise nach Frankreich macht.«
»Und wie steht’s mit ihrer Amnesie?«
»Unverändert. Aber du musst dich mal mit diesen Idiotenärzten unterhalten. Die überschütten dich mit einem Schwall komplizierter Fremdwörter, eiern herum, sondern ellenlange Sermone ab, und wenn du sie zwingst, sich verständlich auszudrücken, kriechen sie ganz kleinlaut unter den Teppich: Nischt, nischt, nischt. Keine Ahnung, wann die Dame geruhen könnte, ihre Erinnerung wiederzufinden. Keine Ahnung, warum und wie sie ihr Gedächtnis verloren hat.«
Nicht ganz so grob, aber in der Sache unverändert hatte es Grem in den Montagskonferenzen vorgetragen, zu denen sich die Leiter aller Abteilungen und Dezernate am Wochenanfang zwischen acht und neun Uhr trafen. Als Simon heute Morgen zum Schluss die Kollegen Grembowski und Rogge zu sich bat, war ein Raunen durch den Versammlungssaal gegangen. Alle Anwesenden hatten am Wochenende das Tageblatt gelesen.
»Was macht sie jetzt eigentlich?«
»Steht alles in den Akten«, sagte Grem, aber weil Rogge nur den Kopf schräg legte, räusperte Grem sich ausgiebig. »Sie arbeitet in einer Bäckerei, als Aushilfsverkäuferin. Seit sechs Monaten hat sie einen Freund und der heißt - halt dich fest! - Achim Schönborn.«
»Ach nee!«, kommentierte Rogge gedehnt, was Grem zu beruhigen schien: »Ja, genau der.«
»Lebt sie bei ihm da draußen in seiner Villa?«
»Nein, sie hat immer noch ihre eigene Wohnung. Aber sie verbringt manche Nacht und fast jedes Wochenende in Steinfurth.«
»Was Ernstes zwischen den beiden, Grem?«
»Ich hab schon den Eindruck.« Plötzlich hatte er wieder zu seinem normalen Ton gefunden. »Sie machen übrigens kein Geheimnis daraus. Mit Schönborn hab ich ein paar Mal gesprochen. Er möchte natürlich auch gern erfahren, wen er sich da ins Bett geholt hat. Dafür wäre er auch bereit zu löhnen, Sachverständige und Gutachten und Psychiater und Privatdetektive und Belohnungen. Er hat’s ja!«, fügte er bitter hinzu.
»Und sie? Wie benimmt sie sich?«
Bevor Grem antwortete, griff er in eine Schublade und holte den gefürchteten Stinkkocher hervor; Rogge hielt sich die Nase zu, was Grem aber nicht beeindruckte.
»Wahrscheinlich ganz normal, Jens. Das Schwierige ist - ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie es ist, wenn man nicht mal mehr weiß, wie man heißt, wann und wo man geboren wurde.«
Jetzt gestattete sich Rogge ein Schmunzeln, das Grem mit einem finsteren Blick quittierte. Eine Simulantin - als solche hatte er sie anfangs behandelt, grob, unhöflich, an der Grenze zur unerlaubten Einschüchterung, bis die Ärzte dazwischenfunkten und die Presse informierten. Daraufhin hatte Grem einen offiziellen Verweis bekommen, der jetzt seine Personalakte verunzierte, den Fall aber noch behalten, weil Simon vor den Angriffen in den Zeitungen nicht kuschen wollte. Was Grem wahrscheinlich schon vergessen hatte. Oder verdrängt, sein Sündenregister hatte eine beachtliche Länge und Dankbarkeit gehörte ohnehin nicht zu seinen Stärken.
»Was ist denn dein Eindruck? Will sie ihr Gedächtnis wiederfinden?«
»Ach, ich denk schon!« Dies einzugestehen fiel Grem schwer, Rogge nickte nachdenklich. Viele Menschen verschwanden, wurden eines Tages auf gestöbert und behaupteten, sie hätten vorübergehend ihr Gedächtnis verloren. In neun von zehn Fällen logen sie, wollten etwas vertuschen, vor der Polizei, den Eltern, dem Ehepartner. Natürlich gab es Fälle, in denen wirklich eine Amnesie zutraf, nach Schädelverletzungen etwa bei einem Verkehrs- oder Arbeitsunfall oder bei Schlägereien. Aber dann konnten die Knochenklempner Beweise vorlegen, Röntgenbilder, Computertomographien oder auch EEGs, die der misstrauische Grem mittlerweile akzeptierte. In anderen Fällen ließ er sich von Blutanalysen überzeugen; Junkies dröhnten sich mit allen möglichen Drogen zu, bis der Film riss, für einige Zeit oder - seltener - auch für immer. Aber eine Frau, die nicht die geringste Verletzung oder hirnorganische Veränderung aufwies? - Nein, nicht mit ihm, nicht mit Grem dem Groben.
»Na dann, vielen Dank, ich halte dich auf dem Laufenden.«
In seinem Zimmer lehnte Rogge lange am Fenster und schaute träumend in den Innenhof hinunter, den eine riesige Kastanie fast vollständig beschirmte. Jedes Jahr begann im Herbst ein Krieg zwischen den Kollegen, die das Privileg genossen, im Innenhof parken zu dürfen, und der obersten Etage des Präsidiums, weil einige fallende Kastanien winzige Dellen in die bunten Bleche schlugen. Bis jetzt hatten sich die Baumfreunde durchgesetzt, aber immer nur mit knapper Mehrheit.
Rogge schätzte das altmodische Präsidium, das in den zwanziger Jahren erbaut worden war, ein vierstöckiger Bau rund um einen großen, fast quadratischen Innenhof, aus dunkelbraunen Klinkern, mit doppelten Holzfenstern und einem ordentlichen Ziegeldach mit zahlreichen Gauben. Vor einem Jahrzehnt war das Dachgeschoss ausgebaut worden, was vorübergehend Platz geschaffen hatte, aber bestimmte Abteilungen, vor allem die Kriminaltechnik, hatten in einen Neubau umziehen müssen. In den Räumen über den beiden Durchfahrten in den Längsseiten beschwerten sich die Kollegen im Winter, sie bekämen kalte Füße; das war bewusst doppeldeutig gemeint, aber die Klagen hatten nachgelassen, weil an einen weiteren Neubau wegen der allgemeinen Finanznot nicht zu denken war und selbst die größten Meckerer langsam einsahen, dass sie solch breite Flure, bequeme Treppen und zahlreiche Nebenräume in einem funktionalen Hochhaus nicht erwarten durften.
Leise seufzend drehte Rogge sich um. Das schöne Wetter verlockte zum Träumen. Im Mai war er wieder zum Dienst angetreten, nach acht Wochen Krankenhaus und sechs Wochen Rehaklinik, die Schusswunde war verheilt, er spürte sie nur noch, wenn er den linken Arm überanstrengt hatte. Doch die Müdigkeit überwältigte ihn immer wieder, sie steckte nicht in Knochen und Muskeln, sondern in seinem Kopf. Immer häufiger ertappte er sich dabei, dass er neben sich trat und ratlosneugierig den großen, hageren Mann mit dem faltigen Gesicht und eisengrauen Haaren betrachtete, der manchmal nur wie ein Automat funktionierte, präzise zwar und zuverlässig, aber ohne Anteilnahme, als sei ihm der Beruf so fremd geworden wie die Umgebung. Rogge hatte zu viel gesehen und erlebt, um noch tolerant zu sein, und sein Mitleid sparte er sich für die wenigen Fälle auf, in denen es angebracht war. Als Erster hatte Simon Rogges Probleme bemerkt. Dem stets auf Distanz bedachten und schweigsamen Rat entging wenig, doch weil er sich nichts anmerken ließ, unterschätzten viele seine Scharfsichtigkeit.
»Noch nicht wieder da, Herr Rogge?«
»Nein. Es gibt Tage, da laufe ich wie ein Fremder durchs Haus und begleite mich.«
In den sechs Wochen Rehakur hatte Rogge viel gegrübelt. Dass ihn die meisten Kollegen nicht leiden mochten, dass er als schwieriger Einzelgänger galt, um den man besser einen Bogen schlug, wusste er schon lange. Dass er seinen Beruf trotz aller Schattenseiten liebte, würden ihm die meisten Kollegen nicht glauben. Während er mechanisch den Anweisungen der Krankengymnasten folgte, überlegte er, ob er wirklich noch an seinem Posten hing oder nur die Langeweile der vorzeitigen Pensionierung fürchtete. Seine drei Kinder hatten das Haus verlassen und standen auf eigenen Füßen, führten ihr eigenes Leben in anderen Städten und nahmen sich selten die Zeit, den Vater zu besuchen. Rogges Frau war vor fünf Jahren gestorben; und als ihm das Haus zu groß geworden war, hatte er es zu einem sehr guten Preis verkauft und das Geld gut angelegt. Er hatte in einem anonymen Hochhaus eine kleine Wohnung gemietet, in der er sich gelegentlich wie eingesperrt fühlte. Seitdem gab Rogge sein Gehalt nicht mehr aus und rührte die Zinsen nicht an. Redselig war er nie gewesen, nun wurde er wortkarg. Klar, Simon wollte diesen unangenehmen Fall endlich abschließen, aber wahrscheinlich rieb sich der Rat gleichzeitig die Hände, weil er gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe erschlagen hatte: Grem einen Dämpfer verpasst und für Rogge etwas gefunden, das der allein recherchieren, bei dem er sich seine Zeit selbst einteilen konnte.
Nun