Erinnerungen an die "68er": Damals in Dahlem. Jürgen Dittberner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Dittberner
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783838276052
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absolute Fortschrittsgläubigkeit im Hinblick auf neue Technologien wurde konterkariert durch den eingeleiteten Ausstieg aus der Atomenergie und durch die von den „Grünen“ eröffnete Debatte über die Grenzen der Gen- und Zellentechnologie.

       Das Gebot der trotz aller Antiamerikanismen in der Bevölkerung bis dahin gepflegten diplomatischen Rücksichtnahme auf die Interessen der Führungsmacht USA wurde im Bunde mit Frankreich und Russland bei den Entscheidungen über den Irakkrieg gebrochen. Die deutsche Abnabelung von den USA-Interessen hielt an – verstärkt durch die antideutsche Einstellung des früheren US-Präsidenten Trump.

       Der Anspruch, die Menschenrechte als einen Maßstab der deutschen Außenpolitik zu nehmen, wurde wie im Falle Tschetschenien gegenüber Russland aber auch Guantanamo gegenüber den USA und generell gegenüber China fallen gelassen: Wirtschaftsinteressen wurden über moralische Ansprüche gestellt.

       Die Einordnung deutscher Politik hinter die Ziele der Europäischen Union wurde – zumindest zeitweise – aufgegeben wie die mehrfachen Nichtachtungen vereinbarter Defizitkriterien beim Haushalt gezeigt hatten.

       Deutschland definierte sich als „größere Mittelmacht“, die eigene Interessen auch ohne Rücksicht auf traditionelle Verbündete durchsetzte.

       Der Begriff „Reform“ wurde umgedeutet: Rot-Grün wagte unter der Überschrift „Hartz I – IV“ ein Abspecken des Sozialstaates wie ihn Schwarz-Gelb nicht geschafft hatte mit der Folge, dass die SPD ein Defizit bei ihrem Leitthema „soziale Gerechtigkeit“ hatte.

       Angela Merkel hingegen, die spätere langjährige Bundeskanzlerin von der CDU, lebte von den Früchten dieser „Reform“.

      Gegen den Druck nach politischer Korrektheit gab es gelegentliches Aufbegehren. Insbesondere die von „Grünen“, aber auch von der SPD favorisierte „Multikulturelle Gesellschaft“ forderte vor allem Konservative heraus. Sie sprachen von der Notwendigkeit einer „deutschen Leitkultur“, was wiederum Protest rot-grüner Aktivisten hervorrief.

      Dann kamen als Folge des 11. September 2001 – dem Tag der Flugzeugentführungen ins New Yorker World Trade Center – Verdächtigungen gegen undurchschaubare muslimische Gruppen auf. Diese wären oft Brutstellen des Terrors. Das Attentat auf einen Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz bestätigte für viele diesen Verdacht.

      Schließlich kam der Begriff von „Parallelgesellschaften“ auf. Hiermit waren zunächst türkische Kreise gemeint, die jenseits der deutschen Kultur und Sprache existierten, sich durch Frauenzuzüge aus Anatolien rekrutierten und in denen es sogar zu „Ehrenmorden“ an Frauen gekommen wären, die sich in Deutschland integriert hatten und sich den Wertvorstelllungen der Herkunftsfamilie entzögen.

      Später wurden „arabische Clans“ aufgedeckt, denen organisierte Kriminalität vorgeworfen wurde.

      Ganz Deutschland rätselte anfangs, wie es Angela Merkel möglich war, an der Macht zu bleiben. Sie hatte die CDU, diese Schlangengrube, umgestülpt – personell und inhaltlich. Kohl, Merz, Stoiber, Koch, Oettinger, Beust, Guttenberg und viele andere waren bald nicht mehr im Zentrum der Macht. In der großen Koalition hatte sich die Partei geräuschlos sozialdemokratisiert und war bald die stärkste Atomausstiegskraft der Republik. Die SPD kam an die Union nicht mehr heran, und die im Herbst 2009 noch übermütige FDP war zum trostlosen Haufen geworden.

      Oft wurde das politische Ende Angela Merkels prophezeit, und stets lebte sie fort. Ihr Vorgänger Gerhard Schröder fing damit an, indem er weissagte, sie werde es nicht schaffen. Die Herren vom „JU – Andenpakt“ warteten auf den richtigen Moment, um „Mutti“ – wie sie ihre Vorsitzende tauften – aus dem Amt zu putschen. Selbst der loyale Sozialdemokrat Peter Struck bekannte einst: „Die kann mich mal.“

      Heute sind sie alle in Pension oder weggelobt: der Altkanzler Schröder, die einst so stolzen CDU-Ministerpräsidenten und auch der einstige SPD-Fraktionsvorsitzende. Dessen Nachfolgerin Andrea Nahles hat ebenfalls resigniert, Friedrich Merz verlor mehrere Abstimmungen beim CDU-Bundesparteitag, und Peter Struck und Guido Westerwelle sind nicht mehr auf dieser Welt. Angela Merkel hingegen ist weiterhin Bundeskanzlerin.

      Was hält diese Frau?

      Sie zögert und zaudert, aber sie tut es am Ende doch. Horst Seehofer, der Freund/Feind aus dem eigenen Lager, beschwört: „Wer sie unterschätzt, hat schon verloren.“

      Im Binnenclinch scheint sie stark zu sein. Franz Müntefering, ihr erster Vizekanzler und Sozialdemokrat soll gesagt haben, bei ihr als Pilotin lande man immer, man wisse nur nicht, wo.

      Am wichtigsten ist es ihr offensichtlich, oben zu bleiben.

      Charismatisch tritt sie nicht auf, eher gibt sie sich pragmatisch und formuliert meist ungenau. So kann sie jederzeit die Position wechseln, ohne von gestern Gesagtem allzu sehr aufgehalten zu werden.

      Sie entscheidet und erweckt den Eindruck, sie durchschaue die jeweiligen Materien jederzeit. Ihre Minister lässt sie dabei oft wie Assistenten aussehen, lässt sie ansonsten gewähren. Sigmar Gabriel konnte als SPD-Vorsitzender über sie herziehen, Guido Westerwelle lavierte im UN-Sicherheitsrat.

      Irgendwann verhedderten sie sich alle, und dann war sie – die Kanzlerin – es, die die Sache regelte. Sie hat eben einen langen Atem.

      Dass der einst zapplige Sarkozy ihr in der EU den Rang abzunehmen schien, störte sie offenbar nicht. Sie machte derweil Geschäfte mit der Weltmacht China und holte sich im Weißen Haus in Washington einen hohen Orden ab. Als Sarkozys Nachfolger Emmanuel Macron dann als glühender Europäer antrat, strebte er zweifellos die Führung in Europa an, lehnte sich aber zugleich bei Merkel an. Dass Deutschland das größte EU-Mitglied ist, weiß mittlerweile jeder, und dass Frau Merkel und nicht ihr Außenminister die Außenpolitik bestimmt, ist klar. Als der einstige US-Präsident Donald Trump sie öffentlich verachtete, prallte das an ihr ab.

      Diese Angela Merkel hat die politische Kultur Deutschlands Schritt für Schritt verändert:

       Die „alten Herren“, die früher mächtig waren, sind abserviert.

       Das Klima und der Klimawandel wurden wichtiger Teil ihrer Politik.

       2005 schon machte Angela Merkel Deutschland zum Einwanderungsland.

       Die Industrienation Deutschland akzeptiert und erstrebt vor allem erneuerbare Energien.

       Zur Bewältigung der Corona-Pandemien greift die Regierung in liebgewordene Rechte der Bürger ein, und der Opposition im Bundestag bleibt müder Protest.

       Nach dem Austritt Groß Britanniens erfuhr die Europäische Union eine Grunderneuerung, angetrieben durch die Ratspräsidentin Angela Merkel und ihre europäische Gehilfin Ursula von der Leyen.

      Gegen Ende der Ära Merkel fragt sich: Was steckt da von 68 drin?

      Damals in Dahlem schwärmten viele von einer neuen Kultur in Deutschland. Ahnte jemand, wohin das führen könnte und wie die Bundesrepublik 50 Jahre später aussehen würde?

      Wäre