Das „Mehr Demokratie wagen“ der Sozial-Liberalen stieß in der Innenpolitik an Grenzen, denen sich die politischen Akteure durch die Bekämpfung des aus der Studentenbewegung erwachsenen Radikalismus und des Terrorismus gegenübersahen. Die neue Ostpolitik war implantiert, aber die Wirtschaftslage verschlechterte sich. Brandt und Scheel wurden abgelöst durch Schmidt und Genscher. Ökonomisches und administratives Krisenmanagement kamen auf. Parteipolitik gewann die Oberhand. Die SPD wollte die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ testen und die von den Amerikanern gewünschte „Nachrüstung“ des Westens verhindern: alles gegen den erklärten Willen des eigenen Kanzlers Helmut Schmidt. Da fürchtete die FDP, von der kriselnden SPD in einen Abwärtsstrudel gerissen zu werden und seilte sich aus der Bundesregierung ab.
Geistig-moralische Wende
Der neue Bundeskanzler, Helmut Kohl16 (CDU), sprach von einer „geistig-moralischen Wende“, die seine Regierung herbeiführen wollte. Sie sollte anknüpfen an die aus seiner Sicht „gute, alte Adenauer-Zeit“ und ihre Spielregeln. Doch daraus konnte nichts werden. Obwohl sich die sozial-liberale „neue Mittelschicht“ als Hirngespinst erwiesen hatte, denn die höheren Angestellten und Beamten liefen 1982/83 in Scharen zur CDU/CSU über, war doch in der Bevölkerung ein Bewusstseinsstand erreicht, dass eigene Rechte auch gegen den Staat durchgeboxt werden müssten, und die allgemeine Ost-West-Entspannung hatte trotz eines erneuten Wettrüstens zwischenstaatliche Beziehungen geschaffen, für die die alten politischen Handlungsmuster nicht mehr passten.
Die „Grünen“ drangen weiter ins Parteiensystem und wandelten sich von einer „Anti-Parteien-Partei“ binnen 20 Jahren zur Regierungs- und Kriegspartei.17 In der allgemeinen politischen Kultur machte sich in der Ära Kohl Besitzstandsdenken und Egoismus breit. Das Gemeinwohl galt immer weniger, das Ego immer mehr. Nicht einmal eine Volkszählung wagte der Staat anzusetzen, weil er sich nicht einer Klageflut aussetzen wollte von Staatsbürgern, die ihre individuellen Freiheitsrechte verletzt sahen. Eine Rechthabergesellschaft war entstanden, und die Regierung Kohl schritt aus Furcht vor Wählerverlusten nicht dagegen ein. So reduzierte sich die politische Kultur auf Besitzstandswahrung, und die öffentliche Debatte wurde durch eine „politische Korrektheit“ geregelt, die folgendes propagierte:
Der Nationalsozialismus ist schlecht, und rechte politische Strömungen sind es ebenfalls.
Im Lande lebende Ausländer bereichern die multikulturelle Gesellschaft und sollen integriert werden.
Die Gewerkschaften haben das Recht, von den Arbeitgebern höchstmögliche Löhne zu erzwingen und obendrein „Errungenschaften“ wie die 35-Stundenwoche und den Kündigungsschutz.
Strukturelle Arbeitslosigkeit darf es nicht geben; das soziale Netz fängt vorübergehend beschäftigungslos Gewordene auf und führt sie zurück in den ersten Arbeitsmarkt.
„Die Rente ist sicher.“
Jeder Bürger hat das Recht, sich gegen den Staat und jede Institution mithilfe von Gerichten zu wehren, wenn er sich in seinen Interessen getroffen fühlt.
Soziale Defizite oder Benachteiligungen unterschiedlicher Gruppen sind administrativ durch Quoten auszugleichen.
Es ist das gute Recht eines jeden, den offiziellen politischen Organen zu misstrauen und ihnen durch Runde Tische, Beiräte, Kommissionen, Plebiszite oder Bürgerinitiativen in die Arme zu fallen.
All dies ließ die Regierung Kohl laufen aus Angst vor Amtsverlust, obwohl man wusste, dass in den skandinavischen Staaten, in den USA und in Großbritannien zur gleichen Zeit tiefgreifende Veränderungen durchgeführt wurden. Kohl glaubte es seinen Wählern nicht zumuten zu können, das deutsche Wirtschafts- und Sozialsystem zu modernisieren. Aus dem gleichen Grunde wurde die FDP ein Teil der „Machtmaschine Kohl“ und spielte nur noch die Rolle einer „Partei der zweiten Wahl“.18 Die konservativ-liberale Regierung konnte die aus internationalem Druck entstandene steigende Arbeitslosigkeit nicht abfangen, nicht das Gesundheits-, das Renten- oder das Steuersystem reformieren. Sie war den Ansprüchen ihrer Moderatoren- und Krisenmanagerrolle nicht mehr gewachsen und wäre 1990 wohl abgewählt worden, wäre nicht die deutsche Einheit gekommen.
Deutsche Einheit
Als der Ostblock zusammenbrach, ergriffen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher nach Zögern den „Mantel der Geschichte“ und setzten auf die deutsche Einheit. Der Wunsch nach der Einheit des Nationalstaates gehörte zu den Wertvorstellungen älterer Politiker wie auch Willy Brandt oder Richard von Weizsäcker. In der westdeutschen Bevölkerung war die nationale Einheit besonders bei den Jüngeren kein relevanter Wert, und entsprechend agierten der Kanzlerkandidat der SPD von 1990, Oskar Lafontaine, und die „Grünen“. Aber Kohl und Genscher setzten auf die deutsche Einheit. Sie erhielten die Unterstützung einer Mehrheit der Ostdeutschen sowie ihrer Generationsgenossen in Westdeutschland.
Bei der Einheit stießen zwei politische Kulturen in Deutschland aufeinander. Wie hätte es anders sein sollen, nachdem die politische Sozialisation in Ost und West unterschiedlich verlaufen war? Wurden im Westen Individualismus bis hin zum Egoismus, Leistung und Durchsetzungsfähigkeit als grundlegende Werte vermittelt, so waren es im Osten die Werte Gemeinschaft, Solidarität und soziale Sicherheit. War vom Westen aus trotz aller Antiamerikanismen New York der Mittelpunkt der Welt, so war es vom Osten her Moskau. Der Osten sollte sich an den Westen anpassen. Das führte zu unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen. Die Systemkritiker im Untergang des Staatskommunismus verabsolutierten ihre in der Wende gemachten Erfahrungen und waren danach für westliche Verhältnisse ungewohnt rigoros und unerbittlich in der Verurteilung des alten Systems. Die Verlierer und die sich missverstanden Fühlenden aus dem alten System wollten ihre eigene Identität „einbringen“ und machten die PDS stark. Die meist bei den „Grünen“ gelandeten Rigoristen aus dem Osten wie die von „Bündnis 90“ und eben die PDS waren neue Elemente im Parteiensystem.
Entgegen der Erwartungen von 1990 passte sich der Osten nicht an den Wohlstand des Westens an, sondern der Westen büßte ebenfalls Arbeitsplätze ein. Die ökonomische Schere zwischen Ost und West schloss sich nicht, sondern öffnete sich weiter. Das ist die Hauptursache dafür, dass sich ein ostdeutsches Milieu hielt, gehegt von der PDS – später den „Linken“ –, die bei Landtagswahlen davon profitierte. 2005, nachdem die rot-grüne Bundesregierung – möglicherweise handwerklich unzulänglich – eine Reform des Sozialstaates gewagt hatte, schwappte die Verunsicherung darüber in den Westen.
Rot-Grün
Wenn auch die rot-grüne Koalition 2005 jäh endete, so hatte sich doch in deren Zeit einiges an der politischen Kultur in Deutschland geändert:
Die Einbürgerung länger in Deutschland lebender Ausländer wurde erleichtert; die Zuwanderung weiterer allerdings erschwert. Was die offizielle Politik bislang ignoriert hatte, galt nun als Tatsache: Deutschland wurde ein Einbürgerungsland.
Das Monopol der Ehe zwischen Mann und Frau als Basis der Gesellschaft wurde gebrochen; gleichgeschlechtliche „Ehen“ wurden möglich.