Erinnerungen an die "68er": Damals in Dahlem. Jürgen Dittberner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Dittberner
Издательство: Автор
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Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783838276052
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in den Schulen traten antiautoritär auf; die Ordinarien- wurde durch die Gruppenuniversität ersetzt. Qualitätsstandards wurden Mengenerfolgen geopfert. Tatsächlich stieg der durchschnittliche Ausbildungsstand. Nur litt darunter die Leistung; Spitzenleistungen gerieten ins Hintertreffen. Wirtschaftsführer; liberale und konservative Parteiführer bemängelten dies, setzten sich für Elitenförderung ein. Dafür wurde öffentliches wie privates Kapital mobilisiert. Nun galt das Hochschulsystem der USA als vorbildlich, und selbst eine rot-grüne Bundesregierung zeigte sich von „Pisa“-Studien über das mangelhafte deutsche Bildungssystem beeindruckt. Sie stellte Mittel zur Verfügung für Ganztagserziehung einer- und elitäre Hochschulstudiengänge anderseits.

      Das „Mehr Demokratie wagen“ der Sozial-Liberalen stieß in der Innenpolitik an Grenzen, denen sich die politischen Akteure durch die Bekämpfung des aus der Studentenbewegung erwachsenen Radikalismus und des Terrorismus gegenübersahen. Die neue Ostpolitik war implantiert, aber die Wirtschaftslage verschlechterte sich. Brandt und Scheel wurden abgelöst durch Schmidt und Genscher. Ökonomisches und administratives Krisenmanagement kamen auf. Parteipolitik gewann die Oberhand. Die SPD wollte die „Belastbarkeit der Wirtschaft“ testen und die von den Amerikanern gewünschte „Nachrüstung“ des Westens verhindern: alles gegen den erklärten Willen des eigenen Kanzlers Helmut Schmidt. Da fürchtete die FDP, von der kriselnden SPD in einen Abwärtsstrudel gerissen zu werden und seilte sich aus der Bundesregierung ab.

      Der neue Bundeskanzler, Helmut Kohl16 (CDU), sprach von einer „geistig-moralischen Wende“, die seine Regierung herbeiführen wollte. Sie sollte anknüpfen an die aus seiner Sicht „gute, alte Adenauer-Zeit“ und ihre Spielregeln. Doch daraus konnte nichts werden. Obwohl sich die sozial-liberale „neue Mittelschicht“ als Hirngespinst erwiesen hatte, denn die höheren Angestellten und Beamten liefen 1982/83 in Scharen zur CDU/CSU über, war doch in der Bevölkerung ein Bewusstseinsstand erreicht, dass eigene Rechte auch gegen den Staat durchgeboxt werden müssten, und die allgemeine Ost-West-Entspannung hatte trotz eines erneuten Wettrüstens zwischenstaatliche Beziehungen geschaffen, für die die alten politischen Handlungsmuster nicht mehr passten.

       Der Nationalsozialismus ist schlecht, und rechte politische Strömungen sind es ebenfalls.

       Im Lande lebende Ausländer bereichern die multikulturelle Gesellschaft und sollen integriert werden.

       Die Gewerkschaften haben das Recht, von den Arbeitgebern höchstmögliche Löhne zu erzwingen und obendrein „Errungenschaften“ wie die 35-Stundenwoche und den Kündigungsschutz.

       Strukturelle Arbeitslosigkeit darf es nicht geben; das soziale Netz fängt vorübergehend beschäftigungslos Gewordene auf und führt sie zurück in den ersten Arbeitsmarkt.

       „Die Rente ist sicher.“

       Jeder Bürger hat das Recht, sich gegen den Staat und jede Institution mithilfe von Gerichten zu wehren, wenn er sich in seinen Interessen getroffen fühlt.

       Soziale Defizite oder Benachteiligungen unterschiedlicher Gruppen sind administrativ durch Quoten auszugleichen.

       Es ist das gute Recht eines jeden, den offiziellen politischen Organen zu misstrauen und ihnen durch Runde Tische, Beiräte, Kommissionen, Plebiszite oder Bürgerinitiativen in die Arme zu fallen.

      Als der Ostblock zusammenbrach, ergriffen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher nach Zögern den „Mantel der Geschichte“ und setzten auf die deutsche Einheit. Der Wunsch nach der Einheit des Nationalstaates gehörte zu den Wertvorstellungen älterer Politiker wie auch Willy Brandt oder Richard von Weizsäcker. In der westdeutschen Bevölkerung war die nationale Einheit besonders bei den Jüngeren kein relevanter Wert, und entsprechend agierten der Kanzlerkandidat der SPD von 1990, Oskar Lafontaine, und die „Grünen“. Aber Kohl und Genscher setzten auf die deutsche Einheit. Sie erhielten die Unterstützung einer Mehrheit der Ostdeutschen sowie ihrer Generationsgenossen in Westdeutschland.

      Bei der Einheit stießen zwei politische Kulturen in Deutschland aufeinander. Wie hätte es anders sein sollen, nachdem die politische Sozialisation in Ost und West unterschiedlich verlaufen war? Wurden im Westen Individualismus bis hin zum Egoismus, Leistung und Durchsetzungsfähigkeit als grundlegende Werte vermittelt, so waren es im Osten die Werte Gemeinschaft, Solidarität und soziale Sicherheit. War vom Westen aus trotz aller Antiamerikanismen New York der Mittelpunkt der Welt, so war es vom Osten her Moskau. Der Osten sollte sich an den Westen anpassen. Das führte zu unterschiedlichen Verarbeitungsprozessen. Die Systemkritiker im Untergang des Staatskommunismus verabsolutierten ihre in der Wende gemachten Erfahrungen und waren danach für westliche Verhältnisse ungewohnt rigoros und unerbittlich in der Verurteilung des alten Systems. Die Verlierer und die sich missverstanden Fühlenden aus dem alten System wollten ihre eigene Identität „einbringen“ und machten die PDS stark. Die meist bei den „Grünen“ gelandeten Rigoristen aus dem Osten wie die von „Bündnis 90“ und eben die PDS waren neue Elemente im Parteiensystem.

      Entgegen der Erwartungen von 1990 passte sich der Osten nicht an den Wohlstand des Westens an, sondern der Westen büßte ebenfalls Arbeitsplätze ein. Die ökonomische Schere zwischen Ost und West schloss sich nicht, sondern öffnete sich weiter. Das ist die Hauptursache dafür, dass sich ein ostdeutsches Milieu hielt, gehegt von der PDS – später den „Linken“ –, die bei Landtagswahlen davon profitierte. 2005, nachdem die rot-grüne Bundesregierung – möglicherweise handwerklich unzulänglich – eine Reform des Sozialstaates gewagt hatte, schwappte die Verunsicherung darüber in den Westen.

      Wenn auch die rot-grüne Koalition 2005 jäh endete, so hatte sich doch in deren Zeit einiges an der politischen Kultur in Deutschland geändert:

       Die Einbürgerung länger in Deutschland lebender Ausländer wurde erleichtert; die Zuwanderung weiterer allerdings erschwert. Was die offizielle Politik bislang ignoriert hatte, galt nun als Tatsache: Deutschland wurde ein Einbürgerungsland.

       Das Monopol der Ehe zwischen Mann und Frau als Basis der Gesellschaft wurde gebrochen; gleichgeschlechtliche „Ehen“ wurden möglich.