Beobachter nannten das den Übergang von materialistischen zu postmaterialistischen Werten.7 Diese Veränderungen betrafen die in der Bundesrepublik sozialisierte Nachkriegsgeneration.
Der Irritation über die Festnahmen und Durchsuchungen beim „Spiegel“ folgten
das Aufdecken eines „Bildungsnotstandes“ von den Zwergschulen bis hin zu den Ordinarienuniversitäten,
die durch die Vietnam-Intervention bewirkte Abkehr vom Idol der USA,
ein Ende der Toleranz gegen die Hitlerverniedlichungen der Vorgängergeneration
und
die Einsicht in die umweltzerstörende Wirkung einer bis dahin unkritisch betriebenen Industrialisierung.
Die Veränderungen im politischen Bewusstsein ereigneten sich vorzugsweise im studentischen Milieu und wurden dort forciert durch „linke“ Gruppierungen wie den SDS („Sozialistischer Deutscher Studentenbund“) und den SHB („Sozialdemokratischer Hochschulbund“), dann auch durch den LSD („Liberaler Studentenbund Deutschland“). Das waren ursprünglich Studentenorganisationen der politischen Parteien SPD und FDP, die – wie der SDS – entweder von der Mutterpartei „verstoßen“ wurden oder sich von ihr abwandten. Die sich aus der Studentenschaft entwickelnde APO bekam Zulauf durch die abstoßende Wirkung einer bösen Polemik der „Springer“-Presse, durch autoritäre Reaktionen der Ordinarien-Universitäten und durch das harte Vorgehen der Polizei gegen Protestaktionen. Der tödliche Schuss eines Polizeibeamten gegen den Studenten Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 vor der Deutschen Oper in Berlin anlässlich des Besuchs des Schahs von Persien hatte eine breite Mobilisierung zur Folge. Den bisher vor allem sozialistisch und marxistisch ausgerichteten Protestaktionen schlossen sich nun Liberale und Konservative unter der akademischen Jugend an.8
Die studentische Protestbewegung – im Nachhinein oft „68er-Bewegung“ genannt9 – hatte vielfach zu einer Vertiefung des demokratischen Bewusstseins geführt. Bürgerinitiativen außerhalb der Parteien und des offiziellen politischen Systems wären ohne die 68er nicht entstanden, und dass die „Grünen“ 1983 in das Kartell des Zweieinhalb-Parteiensystems eindringen konnten10, geht auch auf die studentische Protestbewegung zurück.
Freilich bildete sich aus der Bewegung eine Nebenströmung, die im Terrorismus mündete und über die RAF11 verfügte. Die Reaktion des Staates auf diese Entwicklung war hart und unerbittlich. Schon der erste sozialdemokratische Bundeskanzler Willy Brandt hatte einem „Radikalenerlass“ zugestimmt, nach dem den als „Verfassungsfeinde“ deklarierten „Linken“ der Zutritt zum öffentlichen Dienst verwehrt werden sollte. Unter Brandts Nachfolger Helmut Schmidt wurden erpresserische RAF-Ultimaten missachtet mit der Folge der Ermordung des als Geißel genommenen BDI-Präsidenten12 Hans-Martin Schleyer. Es gab zum allgemeinen gesellschaftlichen Demokratisierungsschub eine Gegenentwicklung, so dass der Staat sich einer „wehrhaften Demokratie“ verpflichtete.
Die Anfänge der 68er lagen jedoch nicht nur in der Abkehr von materiellen und der Hinwendung zu postmateriellen Werten. Es ereignete sich vielmehr ein globaler Paradigmenwechsel: Das 50er-Jahre-Idol USA wurde Ziel tiefer Ablehnung und verbaler Angriffe. Der Dualismus des Kalten Krieges wurde zugleich aufgelöst in Richtung einer Annäherung zwischen Ost und West, und das Tabu, sich mit den Lehren insbesondere von Karl Marx nicht zu beschäftigen, wurde gebrochen.
War nämlich Amerika in den fünfziger Jahren das allgemeine Vorbild in der Demokratie, der Kultur und im Konsum, so verschwand das mehr und mehr, als die USA einen Interventionskrieg gegen ein kleines Volk in Vietnam führten. Aus Befreiern wurden in den Augen Vieler Interventionisten, aus Demokraten Nationalisten und aus Konsumenten Umweltzerstörer. Es war weder offizielle Politik, die solchen Wandel des Amerika-Bildes bewirkte, noch war es die Masse des Volkes: Studenten und intellektuelle Minderheiten demontierten das Idol. Dafür ernteten sie auch Hass der Straße und der politischen Eliten.
Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis die Amerika-Distanz die offizielle deutsche Politik vereinnahmt hatte: Insofern waren Gerhard Schröder und Josef Fischer späte 68er oder – genauer: Sie ernteten Früchte der 68er Bewegung!
Der Antiamerikanismus der 68er war ursprünglich schlechten Gewissens in die deutsche Öffentlichkeit getragen worden. Dabei hatte es – wie gesagt – geholfen, dass es im westlichen Ausland Parallelentwicklungen gegeben hatte: Demonstrationen in Paris und in den USA selbst. So konnten die deutschen Antiamerikanisten sagen, sie wären nicht gegen das amerikanische Volk – da wären sie sogar solidarisch zu den „Genossen“ in Berkeley: Sie würden sich vielmehr gegen das politökonomische US-System wenden, das die Völker – auch das der USA – versklaven wolle.
Das passte zur Marx-Renaissance. Von Konrad Adenauer13 bis zum Sozialdemokraten Kurt Schumacher14 war sich die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft einig: Nationalsozialismus und Kommunismus wären gleichermaßen totalitäre Systeme. Von Schumacher stammt das Wort, die Kommunisten seien „rot lackierte Nazis“. Die Theoretiker des Kommunismus waren in der Zeit des „Kalten Krieges“ im Westen verfemt. Niemand musste fürchten, sich zu blamieren, wenn er das „Kapital“ und „Mein Kampf“ auf eine Stufe stellte. Da war es eine Provokation und ein Tabubruch, als der SDS damit anfing, Marx-Rezeptionen in die Öffentlichkeit zu tragen. Das war jedoch die Folge auch jenes Unvereinbarkeitsbeschlusses, mit dem die SPD nach ihrem nunmehr an der CDU orientierten Godesberger Programm 1969 den störrischen Studentenbund SDS aus der sozialdemokratischen Familie verstieß.
Sozial-liberal
So sehr hatten die studentischen Proteste das politische Klima verändert, dass der „CDU-Staat“15 1969 sein Ende fand und die sozial-liberale Koalition unter Willy Brandt und Walter Scheel neue Wege ging. Das Bündnis wähnte sich getragen von einer neuen Interessenlage: der „neuen Mittelschicht“. Die aufgrund ihrer beruflichen Qualifikation unabhängig Beschäftigten seien die Avantgarde der Gesellschaft, am Wohle des Ganzen orientiert und deswegen die Träger der „Friedens“-politik und der Reformen im Innern.
Das schien sich vor allem in der Ostpolitik zu zeigen. Die Konfrontation zu den Staaten Osteuropas, ja sogar zum deutschen Gegenmodell, der DDR („Deutsche Demokratische Republik“), wurde aufgegeben und ein „Wandel durch Annäherung“ angestrebt. Zu dieser Entwicklung beigetragen hatte der Bau der Mauer 1961, als alle Welt sehen konnte, dass die deutsche und europäische Spaltung durch Konfrontation weiter vertieft wurde. Um diesem Zustand zu begegnen, kam es zu Verträgen, die in Bonn mit Moskau, Warschau und sogar Ost-Berlin abgeschlossen wurden; so kam es zu Vereinbarungen über Berlin. Im Innern Westdeutschlands setzte die sozial-liberale Koalition eine Bildungsreform durch, welche die Chancengleichheit erhöhen sollte, neue Bildungswege und -einrichtungen schuf sowie großen Schichten der Bevölkerung höherrangige Ausbildungen ermöglichte. Das Ideal der „antiautoritären Erziehung“ kam auf.
Der Bundespräsident Heinrich Lübke hatte einst von den Vorzügen der Zwergschulen geschwärmt; nun entdeckten Bildungsforscher und -politiker einen „Bildungsnotstand“.