Erinnerungen an die "68er": Damals in Dahlem. Jürgen Dittberner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jürgen Dittberner
Издательство: Автор
Серия:
Жанр произведения: Биографии и Мемуары
Год издания: 0
isbn: 9783838276052
Скачать книгу
auf kommunaler Ebene und die Entfaltung eines neuen politischen Bewusstseins. Dieses Bewusstsein verließ die Vorstellung des paternalistischen Staates und rückte Bedürfnisse der jeweiligen Persönlichkeiten ins Zentrum. Diese Bedürfnisse zielten zunächst auf den sozialen Status („Chancengleichheit“), später auf allgemeine politische Werte wie „Umweltschutz“ oder „Frieden“ und „Klimaschutz“.

      Der Irritation über die Festnahmen und Durchsuchungen beim „Spiegel“ folgten

       das Aufdecken eines „Bildungsnotstandes“ von den Zwergschulen bis hin zu den Ordinarienuniversitäten,

       die durch die Vietnam-Intervention bewirkte Abkehr vom Idol der USA,

       ein Ende der Toleranz gegen die Hitlerverniedlichungen der Vorgängergeneration

      und

       die Einsicht in die umweltzerstörende Wirkung einer bis dahin unkritisch betriebenen Industrialisierung.

      Die Anfänge der 68er lagen jedoch nicht nur in der Abkehr von materiellen und der Hinwendung zu postmateriellen Werten. Es ereignete sich vielmehr ein globaler Paradigmenwechsel: Das 50er-Jahre-Idol USA wurde Ziel tiefer Ablehnung und verbaler Angriffe. Der Dualismus des Kalten Krieges wurde zugleich aufgelöst in Richtung einer Annäherung zwischen Ost und West, und das Tabu, sich mit den Lehren insbesondere von Karl Marx nicht zu beschäftigen, wurde gebrochen.

      War nämlich Amerika in den fünfziger Jahren das allgemeine Vorbild in der Demokratie, der Kultur und im Konsum, so verschwand das mehr und mehr, als die USA einen Interventionskrieg gegen ein kleines Volk in Vietnam führten. Aus Befreiern wurden in den Augen Vieler Interventionisten, aus Demokraten Nationalisten und aus Konsumenten Umweltzerstörer. Es war weder offizielle Politik, die solchen Wandel des Amerika-Bildes bewirkte, noch war es die Masse des Volkes: Studenten und intellektuelle Minderheiten demontierten das Idol. Dafür ernteten sie auch Hass der Straße und der politischen Eliten.

      Es sollte über vierzig Jahre dauern, bis die Amerika-Distanz die offizielle deutsche Politik vereinnahmt hatte: Insofern waren Gerhard Schröder und Josef Fischer späte 68er oder – genauer: Sie ernteten Früchte der 68er Bewegung!

      Der Antiamerikanismus der 68er war ursprünglich schlechten Gewissens in die deutsche Öffentlichkeit getragen worden. Dabei hatte es – wie gesagt – geholfen, dass es im westlichen Ausland Parallelentwicklungen gegeben hatte: Demonstrationen in Paris und in den USA selbst. So konnten die deutschen Antiamerikanisten sagen, sie wären nicht gegen das amerikanische Volk – da wären sie sogar solidarisch zu den „Genossen“ in Berkeley: Sie würden sich vielmehr gegen das politökonomische US-System wenden, das die Völker – auch das der USA – versklaven wolle.

      Das schien sich vor allem in der Ostpolitik zu zeigen. Die Konfrontation zu den Staaten Osteuropas, ja sogar zum deutschen Gegenmodell, der DDR („Deutsche Demokratische Republik“), wurde aufgegeben und ein „Wandel durch Annäherung“ angestrebt. Zu dieser Entwicklung beigetragen hatte der Bau der Mauer 1961, als alle Welt sehen konnte, dass die deutsche und europäische Spaltung durch Konfrontation weiter vertieft wurde. Um diesem Zustand zu begegnen, kam es zu Verträgen, die in Bonn mit Moskau, Warschau und sogar Ost-Berlin abgeschlossen wurden; so kam es zu Vereinbarungen über Berlin. Im Innern Westdeutschlands setzte die sozial-liberale Koalition eine Bildungsreform durch, welche die Chancengleichheit erhöhen sollte, neue Bildungswege und -einrichtungen schuf sowie großen Schichten der Bevölkerung höherrangige Ausbildungen ermöglichte. Das Ideal der „antiautoritären Erziehung“ kam auf.

      Der Bundespräsident Heinrich Lübke hatte einst von den Vorzügen der Zwergschulen geschwärmt; nun entdeckten Bildungsforscher und -politiker einen „Bildungsnotstand“.