Auf einer gewissen Ebene sind Geburt und Tod, Existenz und Nicht-Existenz, »selbst« und »andere« die großen, bestimmenden Themen unseres Lebens. Auf einer anderen Ebene gelangen wir jedoch zu der Erkenntnis, dass jede Erfahrung nur eine Aufführung leerer Erscheinungen ist. Diese Erkenntnis führt uns zum anderen Aspekt des »unabhängigen Verweilens, An-nichts-in-der-Welt-Haftens«, nämlich dem Nicht-Anhaften an Ansichten, insbesondere der Ansicht über das Selbst.
Wenn wir in unserem normalen Wahrnehmungsmodus sehen, hören, riechen, schmecken oder spüren oder wenn wir Dinge kognitiv begreifen, entsteht sofort das irrige Empfinden von »ich« und »mein«: »Ich sehe«, »Ich höre.« Dann kommen wir irgendwann zu »Ich meditiere«, mit Nebenwirkungen wie »Ich meditiere gut (oder schlecht)« beziehungsweise »Ich bin ein guter (oder schlechter) Mensch«. Wir errichten auf den momentanen, veränderlichen Bedingungen einen ganzen Überbau des Selbst.
DAS BAHIYA SUTTA
In einer kurzen und befreienden Lehre, dem Bahiya Sutta oder der Lehrrede an Bahiya, zeigt der Buddha den Weg zur Befreiung von dieser Abhängigkeit durch Ansichten über das Selbst. Es heißt, zu Lebzeiten des Buddha erlitt ein Mann namens Bahiya an der Südküste Indiens Schiffbruch. Er verlor alles, sogar seine Kleidung, und bedeckte sich daher mit Baumrinde. Die Leute, die ihn sahen, hielten ihn für einen großen Asketen und begannen ihn als einen Arahant, ein voll erleuchtetes Wesen, zu verehren. Und irgendwann glaubte es Bahiya selbst.
Nach ein paar Jahren erschienen ihm seine früheren Gefährten, die jetzt Deva (himmlische Wesen) waren, und erklärten ihm, er sei nicht nur kein Arahant, sondern noch nicht einmal auf dem Weg dorthin. Bahiya war darüber sehr erschrocken, doch er trug ein ernsthaftes Bestreben in sich und fragte, was er tun solle. Die Deva erzählten ihm von einem Buddha, einem voll erleuchteten Wesen, das in Nordindien lebe, und rieten Bahiya, ihn aufzusuchen.
Als Bahiya endlich beim Buddha ankam, war dieser gerade von Haus zu Haus auf Almosenrunde unterwegs. Bahiya bat ihn an Ort und Stelle um Belehrung. Der Buddha erwiderte, dies sei nicht der passende Zeitpunkt, er solle ihn im Kloster aufsuchen. Doch Bahiya bat ihn ein zweites und ein drittes Mal: »Meister, ihr könntet sterben. Ich könnte sterben. Bitte lehrt mich jetzt!«, flehte er. Beeindruckt von dieser ernsthaften Dringlichkeit, sprach der Buddha:
»So musst du dich üben: Wenn etwas gesehen wird, soll es nur Gesehenes sein; wenn etwas gehört wird, soll es nur Gehörtes sein; wenn etwas gedacht wird, soll es nur Gedachtes sein; wenn etwas erkannt wird, soll es nur Erkanntes sein. So musst du dich üben: Wenn das, was du siehst, (für dich) nur Gesehenes sein soll; wenn das, was du hörst, (für dich) nur Gehörtes sein soll; wenn das, was du denkst, (für dich) nur Gedachtes sein soll; wenn das, was du erkennst, (für dich) nur Erkanntes sein soll, dann bist du nicht dabei (beteiligt); wenn du nicht dabei (beteiligt) bist, dann bist du weder in dieser Welt noch in jener Welt noch zwischen beiden. Dies ist das Ende des Leidens.«4
In dieser Qualität des reinen Erkennens dessen, was gesehen, gehört, gefühlt oder erkannt wird, geht es nicht darum, verschiedene Sinneseindrücke auszuwerten oder zu vermehren. Indem wir auf diese Weise üben, verstehen wir die selbstlose Natur der Phänomene – wo es kein »Du« gibt – und wir leben und verweilen unabhängig, ohne uns an irgendetwas in der Welt zu klammern.
1. Walter Harding, The Days of Henry David Thoreau (Princeton, NJ: Princeton University Press, 1983), 464–465.
2. Zitiert in Aldous Huxley, The Perennial Philosophy (New York: HarperPerennial, 2009), 285.
3. Zitiert in Anālayo, Der direkte Weg. Aus dem Englischen übersetzt von Ilse Maria Bruckner und Siegfried C.A. Fay, Verlag Beyerlein & Steinschulte, Stammbach 2010. Siehe Anmerkung Kapitel 1, Punkt 1.
4. »The Udana: Inspired Utterances of the Buddha, 1.10«, zitiert in: Ajahn Pasanno / Ajahn Amaro, The Island (Redwood Valley, CA: Abhayagiri Monastic Foundation, 2009), 62–63. Dt.: http://www.palikanon.com/khuddaka/ud_schmidt/udana.htm#ud_i.
Achtsamkeit auf den Körper
7. Achtsamkeit auf den Atem
Die vier Elemente des Refrains beziehen sich zwar auf alle Aspekte unserer Erfahrung, doch im Satipaṭṭhāna Sutta gibt der Buddha auch eine Fülle von spezifischen Meditationsanleitungen. An dieser Stelle können wir die große Bandbreite an geschickten Mitteln wertschätzen, mit denen er seine Lehren an sein jeweiliges Publikum anpasste.
Der Rest dieses Buches besteht aus einer Erörterung dieser Lehren und Anweisungen (auf die jeweils der Refrain folgt). Während wir uns mit den verschiedenen Übungsansätzen befassen, kann es hilfreich sein, darauf zu achten, welche besonders zu unseren eigenen Erfahrungen und Vorlieben passen. Wie in der Einleitung erwähnt, stellt jeder von ihnen ein Tor dar, das zu allem Übrigen führt.
Die Achtsamkeit auf den Körper ist der erste der vier Wege zur Entwicklung von Achtsamkeit. Der Buddha spricht an vielen Stellen darüber, wie lohnend es sei, den Körper als Objekt der Kontemplation zu nehmen; dies sei eine Quelle der Freude, die zu tiefer Konzentration führt. Und er spricht von Achtsamkeit auf den Körper als dem einfachsten und direktesten Weg, die Angriffe Māras, der Kräfte der Ignoranz und der Verblendung des Geistes, zu überwinden:
»Genauso, ihr Bhikkhus, findet Māra, wenn jemand die Achtsamkeit auf den Körper nicht entfaltet und geübt hat, eine Gelegenheit und einen Rückhalt in ihm.«1
»Genauso, ihr Bhikkhus, kann Māra, wenn jemand die Achtsamkeit auf den Körper entfaltet und geübt hat, keine Gelegenheit und keinen Rückhalt in ihm finden.«2
Eine schwere Steinkugel, die leicht in einen weichen Haufen Lehm eindringt, ist das Bild für die Leichtigkeit, mit der Māra Gelegenheit und Rückhalt finden kann. Wenn Māra hingegen keinen Rückhalt findet, ist es, als würfe man ein Wollknäuel gegen eine Tür aus massivem Holz. Es hinterlässt keine Spur.
Der Buddha bezeichnete die Achtsamkeit auf den Körper als die Grundlage all dessen, was wir auf dem Weg zu Nibbāna, zum Erwachen, erreichen können. Das ist eine ziemlich starke Behauptung. Nach dem Tod des Buddha erwähnte Ānanda, sein Cousin und jahrelanger enger Begleiter, dass Achtsamkeit auf den Körper als unser bester Freund betrachtet werden kann. Inmitten der endlosen Abschweifungen der Gedanken, der emotionalen Stürme und des energetischen Auf und Ab können wir immer wieder zu genau diesem Atemzug, genau diesem Schritt zurückkehren. Ich war oft dankbar, dass es so einfach ist. Wir können immer einfach zu den simpelsten Aspekten dessen zurückkehren, was bereits da ist.
MIT DEM ATEM PRAKTIZIEREN
An diesem Punkt seiner Lehrrede erklärt der Buddha diese Praxis noch näher. Er beginnt mit der nachstehenden Frage, die er dann im Folgenden beantwortet:
»Und wie, ihr Bhikkhus, wird die Achtsamkeit auf den Körper entfaltet und geübt, sodass sie von großer Frucht und großem Nutzen ist? Da setzt sich ein Bhikkhu nieder, nachdem er in den Wald oder zum Fuße eines Baumes oder in eine leere Hütte gegangen ist; nachdem er die Beine gekreuzt, den Oberkörper aufgerichtet und die Achtsamkeit vor sich gegenwärtig gehalten hat, atmet er völlig achtsam ein und achtsam atmet er aus.«3
In diesen wenigen Zeilen gibt uns der Buddha eine Menge Hinweise.
Wo praktizieren?
Als Erstes macht er Vorschläge dazu, wo wir praktizieren